Eine Reise ins Wattenmeer – Die 5. Folge Frutti di Mare

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Das Wattenmeer gilt als „Hotspot“ für Biodiversität. Tausende Arten leben in diesem Lebensraum und sind Teil eines einzigartiges Ökosystems. Doch was genau macht das Wattenmeer so besonders und warum ist das Wattenmeer so schützenwert? Eine Reise mit Frutti di Mare an die schleswig-holsteinische Nordseeküste.

Der Schlick findet bei jedem Schritt seinen Weg durch die Zwischenräume der Zehen. Das Geräusch dabei steht exemplarisch für eine Wattwanderung, wie wir sie heute unternehmen. Unterwegs sind wir mit Claus von Hoerschelmann, der uns das Watt heute von Nahem zeigt. Claus ist Biologe am Informationszentrum des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, dem Multimar Wattforum und ist fasziniert von diesem „amphibischen Lebensraum“, wie er ihn nennt. „Das Wattenmeer macht besonders, dass es ein stark tidebetonter Küstenbereich ist“, sagt er. Tidebetont. Das heißt, dass hier die Gezeiten, also Ebbe und Flut, eine große Rolle spielen. Etwa alle sechs Stunden verschwindet und erscheint das Wasser wieder, bedingt durch die Rotation der Erde und die Anziehungskraft des Mondes.

Was das Wattenmeer besonders macht

Durch die Gezeiten wechselt der Wattboden, in dem eine Vielzahl an Krabben, Würmern, Muscheln und Schnecken lebt, immer wieder zwischen überschwemmt und trocken. Und das wiederum zieht eine Menge Vögel an, die sich von diesen Tierchen ernähren. „Beim trockenfallenden Watt sind die Tiere wie auf einem Buffett erreichbar“, erklärt Claus. Neben lokal brütenden Arten wie verschiedenen Seeschwalben oder Watvögeln, rasten über den Jahresverlauf hinweg auch etwa neun Millionen Zugvögel im Wattenmeer. Diese nutzen das Wattenmeer, aufgrund der hohen Nahrungsdichte im Boden, als „Tankstelle“ auf ihrem Pendlerweg zwischen ihren Überwinterungsgebieten in Süd- beziehungsweise Westafrika und ihren Brutgebieten in der Arktis. So pendelt auch der Knutt, ein kleiner graufarbender Zugvogel. Dieser frisst während seiner Rast im Watt tausende kleine Wattschnecken, sodass er sein Gewicht innerhalb weniger Wochen verdoppelt. „Das braucht er auch, weil er danach zu einem 5.000 Kilometer langen Nonstop-Flug in die Arktis ansetzt“, erklärt Claus.

All die Vögel profitieren davon, dass Schnecken, Würmer und Co. die Nahrung im Wattenmeer konzentrieren. Wie Claus erklärt, kommt Nahrung in der Nordsee und dem Wattenmeer nur in sehr verdünnter Form vor, zum Beispiel als Algen. Davon ernähren sich die Tiere im Boden und machen die Nahrung so für die Vögel verfügbar.

"Beim trockenfallenden Watt sind die Tiere wie auf einem Buffett erreichbar."

Die Aufgabe als Lieferanten von Nahrung ist jedoch nicht die einzige Rolle der Tiere im Lebensraum Boden, der auch Benthos genannt wird. Wattwürmer zum Beispiel reinigen ständig den gesamten Wattboden und filtern organisches Material heraus. Durch ihre Gänge machen sie zusätzlich Sauerstoff für andere Bodenlebewesen verfügbar. Und Muscheln wie die Miesmuschel filtern Schwebstoffe aus dem Wasser, die dafür verantwortlich sind, dass das Wachstum von Wasserpflanzen und Algen eingeschränkt wird. Durch trüberes Wasser fällt nämlich weniger Licht, was essenziell für das Pflanzenwachstum ist. Bis zu zwei Liter Meerwasser kann eine einzelne Miesmuschel pro Stunden filtern.

Biologische Vielfalt: Bedeutung und Bedrohung

Wir merken also, dass nur diese Vielfalt und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Arten das Wattenmeer zu einem funktionierendem Ökosystem macht. Und aus diesen Gründen ist eine biologische Vielfalt, auch Biodiversität genannt, so wichtig. Doch was bedeutet der Begriff eigentlich im Bezug auf die Ozeane?

Zunächst einmal können die Ozeane in sehr unterschiedlicher Gestalt auftreten. Zum Beispiel in Gestalt von Flussmündungen, Kelpwäldern, Seegraswiesen, Korallenriffen oder dem offenen Ozean. Wie wir beschrieben haben, sind eine Vielzahl an Tieren, Pflanzen und wichtigen Mikroorganismen Teil dieser unterschiedlichen Lebensräume. Und die Arten und deren Populationen verfügen wiederum über einzelne Individuen, die sich genetisch voneinander unterscheiden. All diese Vielfalt beschreibt der Begriff der biologischen Vielfalt. Also die Vielfalt von Ökosystemen, Arten und Genetik.

Durch eine hohe biologische Vielfalt ist ein Ökosystem widerstandsfähiger. Stirbt eine bestimmte Art aus, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass eine andere Art ihre Rolle, beispielsweise im Nahrungsnetz übernehmen kann. Und eine genetische Vielfalt erhöht zum Beispiel die Chancen des Überlebens einer Art, wenn sich eine Krankheit ausbreitet. Vielfalt und Rollenverteilung können auch beim Thema Fischerei wichtig sein. Gibt es nur wenige fischbare Arten in einem Ökosystem, gibt es kaum Alternativen für die Fischerei, falls es einem Bestand nicht gut geht. Und zusätzlich sind die Ökosysteme so komplex aufgebaut, dass man oft gar nicht genau sagen kann, welche Spezies welche Rolle übernimmt und wo genau das Ökosystem instabil wird, wenn Arten verloren gehen.

Verschiedene Prozesse haben jedoch negative Einflüsse auf die biologische Vielfalt in den Meeren und laut dem Living Planet Index des WWF hat die marine biologische Vielfalt zwischen 1970 und 2016 um 36 Prozent abgenommen. Durch Fischereipraktiken werden Arten zu sehr ausgebeutet und Lebensräume zerstört und die Verschmutzung der Ozeane durch Nährstoffe oder Müll ist ebenfalls ein Problem für die biologische Vielfalt. Eine weitere Herausforderung sind sogenannte eingeschleppte, invasive Arten, die neu in einen Lebensraum kommen und diesen negativ verändern. Sie erhöhen zum Beispiel den Druck auf heimische Arten oder haben selbst keine Fressfeinde. Beispiele hierfür sind der Feuerfischoder die Blaukrabbe, die sich im Mittelmeer ausbreiten, obwohl sie eigentlich nicht in diesem Ökosystem vorkommen. Zusätzlich können viele Lebensräume und Arten mit der Erwärmung und der Versauerung der Ozeane nicht umgehen, die durch den Klimawandel verursacht werden.

Biologische Vielfalt nachhaltig erhalten

Ein Weg zum Erhalt der marinen biologischen Vielfalt sind Meeresschutzgebiete, in denen je nach Umsetzung Nutzungsformen wie Rohstoffförderung, Baumaßnahmen und Fischerei verboten sind. Dabei gelten Nullnutzungsgebiete als effizienteste Strategie, um marine biologische Vielfalt zu schützen. In solche Gebieten ist jegliche Formen der Ressourcenentnahme und Fischerei verboten. Solche Gebiete durchzusetzen ist jedoch schwierig. Weltweit stehen etwa acht Prozent der Meeresflächen unter Schutz. Nur knapp drei Prozent sind jedoch stark geschützt oder Nullnutzungsgebiete. Gleichzeitig finden sich Meeresschutzgebiete vor allem in Küstengewässern. Die Hohe See, also Gebiete, die nicht unter der Souveränität eines Landes stehen, ist kaum geschützt. Trotzdem haben die Vereinten Nationen das Thema auf dem Schirm. So wurde 2023 in New York ein Abkommengeschlossen, durch das 30 Prozent der Hohen See geschützt werden sollen. Obwohl die Umsetzung als schwierig gilt, wird allein schon die Vereinbarung als Erfolg gefeiert.

Auch das Wattenmeer ist ein Meeresschutzgebiet in Küstengewässern. In Gestalt von drei Nationalparks wird das Wattenmeer als Schutzgebiet durch die Bundesländer Schleswig-Holstein (1985), Niedersachsen (1986) und Hamburg (1990) verwaltet. In verschiedenen Schutzzonen sind unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten verboten bzw. erlaubt. Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer verfügt dabei nur über ein kleines Nullnutzungsgebiet südlich des Hindeburgdamms bei Sylt. In den meisten Regionen ist die Fischerei erlaubt, wobei nur die Krabbenfischerei eine größere Rolle spielt. Aufgrund der Nutzung von Schleppnetzen, die über den Meeresboden gezogen werden und Lebensräume zerstören, steht diese Form der Fischerei jedoch ebenfalls vielfach in der Kritik.

Trotzdem profitiert die Natur und die biologische Vielfalt von der Einrichtung der Schutzgebiete im Wattenmeer. Ohne diese würde es den Lebensraum so nicht geben, wie man anhand von Beispielen in den Niederlanden sehen könne, sagt Claus vom Multimar Wattforum. Die Natur kann sich so weitestgehend ungestört entwickeln und die Vögel haben Ruhegebiete während ihrer Rast- und Brutzeiten. Zusätzlich ist das Schutzgebiet wichtig für verschiedene Fischarten. Zwar würden größere Fische weniger im Wattenmeer vorkommen, weil es nicht so tief und wenig schwimmbar sei, doch seien die Gebiete wichtig als ruhige Aufzuchtgebiete für Plattfische wie Schollen, Flundern oder Seezungen, erklärt Claus.

Die Grenzen von Meeresschutzgebieten

„Durch den Meeresspiegelanstieg werden wir zunehmend Wattflächen verlieren“

Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass Meeresschutzgebiete nur die Nutzung in den Griff bekommen können. Herausforderungen wie eingeschleppte invasive Arten, die Verschmutzung oder der Klimawandel können kaum durch die Einrichtung solcher Gebiete angegangen werden. Dies bestätigt Claus auch für das Wattenmeer, für das der Klimwandel ebenfalls ein Problem ist. So würden im Boden lebende Arten Probleme mit der zunehmenden Hitze haben und der Meeresspiegelanstieg langfristig zu Probleme führen. Ab Mitte dieses Jahrhunderts könne die Sedimentationsrate, also die Ablagerung des Sandes auf im Wattenmeer, nicht mehr mit dem Meeresspiegelanstieg mithalten. „Das heißt, dass wir zunehmend Flächen verlieren werden“, führt Claus aus. Es gibt zwar eine Anpassungsstrategie des Landes Schleswig-Holstein, doch sind nicht alle Maßnahmen einfach umzusetzen. Sandaufspülungen, die die Sedimentation verstärken sollen, sind zum Beispiel mit extremem Aufwand verbunden, da die Wassermassen, die die Gezeiten ständig bewegen, immens sind.

So lässt sich sagen, dass Meeresschutzgebiete auch ihre Grenzen haben: Den Klimawandel können sie nicht aufhalten und auch verschiedene Arten der Verschmutzung können sie nicht verhindern. Trotzdem sind Meeresschutzgebiete wie der Nationalpark Wattenmeer sehr wichtige Werkzeuge, um die biologische Vielfalt in den Meeren zu erhalten. Und dies ist essenziell, denn diese Vielfalt ist die Grundlage für das Zusammenspiel von Arten und Ökosystemen. Genau deshalb wird eine breite Einrichtung von Schutzgebieten aus guten Gründen von vielen Seiten wie Umweltverbänden und der Wissenschaft gefordert.

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Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell-sh.de