Noch haben wir die Freiheit

Kommentar

Die Flutkatastrophe in Italien zeigt, wie die Klimakrise schon heute auch in Europa unser Leben und unseren Wohlstand bedroht. Wir wissen, was zu tun ist, um sie einzudämmen. Doch je länger wir damit warten, desto größer wird die Einschränkung unserer Freiheit in der Zukunft.

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„In fünf Minuten haben wir alles verloren, was wir uns zwanzig Jahre lang erarbeitet hatten.“

Diese im ZDF vergangene Woche wiedergegebene Aussage eines Betroffenen der aktuellen Flutkatastrophe in Italien zeigt, wie es derzeit vielen ergeht. Auf extreme Dürreperioden folgt Starkregen, den die trockenen Böden nicht aufnehmen können – Überschwemmungen und Erdrutsche sind die Folge. Nur eine Folge der Klimakrise: Hitzewellen, Waldbrände, Ernteausfälle sind andere. Und sie werden häufiger und heftiger.

Die internationale Wetterbehörde (WMO) hat gerade errechnet, dass die Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur innerhalb der kommenden fünf Jahre die 1,5 Grad Grenze erstmals zeitweise überschreiten wird. Eine Grenze, auf die sich die Staatengemeinschaft beim Klimagipfel in Paris nicht zufällig geeinigt hat. Die Wissenschaft hat mehrfach mit überwältigender Einstimmigkeit dargelegt, dass eine darüber hinausgehende Erhitzung zu unkontrollierbaren Folgen für Mensch und Ökosysteme führen wird. Reaktionsketten und Kippmomente, die das menschliche Leben auf dem Planeten Erde radikal verschlechtern und teils unmöglich machen wird.



Was selbst in Kreisen, die sich bürgerlich nennen, heute noch häufig Alarmismus genannt wird, ist die nüchterne Wiedergabe einer jetzt schon radikalen Wirklichkeit. Man muss es immer wieder in Erinnerung rufen: Die Aussagen der UN-Wetterbehörde sind keine vagen Prognosen, sie fußen auf der bereits in der Atmosphäre befindlichen Menge an Treibhausgasen, die schlicht viel zu hoch ist. Daraus resultierende Effekte wie die schnelle Erwärmung der Ozeane, das Austrocknen oder gar Abbrennen von kohlenstoffreichen Böden und Pflanzen, das Abschmelzen von Eiskappen und Gletschern sowie das Auftauen von Permafrostböden werden diese Menge, zusätzlich zu den direkt durch den Menschen verursachten Emissionen, weiter vergrößern. Eine erkennbare Reduktion dieser menschlichen Emissionen im Vergleich zu vorpandemischen Zeiten ist global aktuell nicht ersichtlich. Diese Lage zu benennen, ist kein Alarmismus.



Denn wir müssen Alarm schlagen. Nicht nur mit Blick auf die schwerwiegenden Folgen für Mensch, Flora und Fauna. Nicht nur wegen der massiven Kosten, die auf Gesellschaft und Wirtschaft zurollen und zu denen der aktuelle Aufwand für Klimaschutzmaßnahmen in keinem Verhältnis steht. Nicht nur wegen der bereits heute an einigen Orten der Welt stattfindenden, teils gewalttätigen, Konflikte um Wasser, Ressourcen, fruchtbares Land, Wohnraum und bezahlbare Energie. Alarm müssen wir schlagen, weil unser Leben in Freiheit auf dem Spiel steht. Unsere freie Gesellschaft steht vor ihrer größten Bewährungsprobe. Anders als vermeintlich liberale Kräfte uns aber weismachen wollen, wird diese Freiheit nicht durch radikale Klimaproteste oder das Verbot ineffizienter, klimaschädlicher Technologien wie Glühbirne, Verbrennungsmotor oder konventioneller Gasheizung auf die Probe gestellt.



Nein, unsere Freiheit wird herausgefordert durch eine immer rasanter fortschreitende Verengung der Gestaltungsoptionen. Im Grunde ist es einfach: Je höher der Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre wird, desto kleiner werden die Möglichkeiten für uns Menschen, uns noch frei für bestimmte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu entscheiden. Mit jedem Aufschub von Klimaschutzmaßnahmen, jeder weiteren Übergangsregelung, wird die Bremsung, die unweigerlich darauf wird folgen müssen, nur umso härter. Stehen uns jetzt noch mehrere Optionen zur Umstellung unserer Lebensweise zur Verfügung, werden wir bereits in wenigen Jahren zur Einstellung bestimmter Tätigkeiten gezwungen sein. Oder, um es drastisch in der Sprache der Kampagne gegen das Gebäudeenergiegesetz zu sagen: Neue Heizungen müssen klimaneutral sein, damit diese Heizungen nicht in ein paar Jahren aus den Kellern gerissen werden müssen.



Die Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur den Einstieg in zentrale Dekarbonisierungsmaßnahmen und in eine auf emissionsfreien Technologien beruhende Wirtschaft verschlafen. Sie hat es, aus Angst vor Machtverlust, auch fahrlässig unterlassen, den Menschen die unbequemen Konsequenzen ihres emissionsreichen Lebensstils zu kommunizieren. Dabei lagen diese, genauso wie übrigens mögliche Lösungswege, bereits jahrelang auf dem Tisch. Die vom ehemaligen CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier in Auftrag gegebenen Szenarien zur Klimaneutralität, die unter anderem von der Fraunhofer-Gesellschaft erarbeitet wurden, beschreiben sehr genau, wie hoch etwa der Anteil der Erneuerbaren Energien in der Wärmeversorgung sein muss, um die Dekarbonisierung rechtzeitig zu erreichen. Wer diese Zahlen kennt, konnte etwa von den Heizungsumbau-Maßnahmen im Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes nicht überrascht sein.



Wer ein freies und sicheres Leben für uns alle gewährleisten will, hätte bereits viel früher den Einstieg in einen verpflichtenden Anteil Erneuerbarer Energien im Wärmebereich beschließen müssen. Die Verzögerung dieses Schritts führt jetzt dazu, dass es in einigen, besonders schwierig gelagerten Fällen möglicherweise nicht mehr genügend Zeit bleibt, dies geordnet umzusetzen. Stattdessen drohen dann abrupt eintretende Betriebsverbote und plötzlich ansteigende Preise für die dort noch benötigten fossilen Energieträger. Damit tritt eine zunächst schleichende Enteignung durch den fortschreitenden Klimawandel ein – eine indirekte Enteignung ohne Entschädigung, die von niemandem beschlossen wurde und die immer rasanter stattfinden wird, bis Wohlstand, Lebensgrundlagen und individuelle Freiheit im Sinne einer Gestaltungsmöglichkeit verloren gegangen sind. Immer häufiger kann dies innerhalb von fünf Minuten passieren, wie eben aktuell in Italien.



Die Geschichte zeigt uns, dass es möglich ist, sich und die Gesellschaft aus misslichen Lagen zu befreien. Als die Menschen in Deutschland vor 175 Jahren für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gingen, haben sie im Geiste der Aufklärung und der französischen Revolution für ein Leben in Freiheit gekämpft, obwohl sie wussten, wie schwer es würde, dies auch tatsächlich zu erreichen. Und obwohl ihre Revolution gescheitert ist, steht unsere heutige Demokratie und unser aller Freiheit auf den Schultern dieser mutigen Menschen. Als die Menschen 1989 in der DDR für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gingen, haben viele bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass sie diese wirklich erringen würden. Und obwohl wir bis heute daran arbeiten, die Versprechen von damals einzulösen, leben die Menschen im wiedervereinten Deutschland und Europa auch dank dieser mutigen Kämpfe in freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften.



Heute braucht es eine neue Freiheitsbewegung, eine weltweite Freiheitsbewegung. Für die schnellstmögliche Dekarbonisierung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Die gute Nachricht: Wir haben dafür alles, was wir brauchen. Wir haben die Technologien, die uns den Umstieg auf Emissionsfreiheit bereits jetzt in den allermeisten Feldern erlauben - bei der Mobilität, bei der Wärme oder auch in der Produktion. In vielen zentralen Bereichen existieren sie bereits seit Jahrzehnten und warten auf ihren Durchbruch am Markt, der von alten Besitzstandswahrenden dominiert und durch staatliche Fehlanreize verzerrt wird. Wir haben die wirtschaftlichen Akteure, die diesen Umstieg bereits jetzt bewerkstelligen können: Viele Unternehmen stehen schon lange in den Startlöchern und warten nur auf eine klare politische Entscheidung, etwa bei den technologischen Standards. Und noch haben wir die finanziellen Mittel, die Transformation auch zu finanzieren. Wenn wir nicht länger warten. Noch haben wir die Freiheit! Lasst uns erkennen, worum es wirklich geht – um nicht weniger als unsere und die Freiheit künftiger Generationen.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de