Türkei: “Man sollte das Wort Niederlage nicht vorschnell benutzen”

Interview

Bei den Wahlen in der Türkei hat Präsident Erdogan erstmals die absolute Mehrheit in der ersten Runde verfehlt – und doch stärker abgeschnitten als es Umfragen vorhergesagt hatten. Laut türkischer Wahlbehörde entfielen auf ihn 49,50 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer Kilicdaroglu bekam 44,90 Prozent. Am 28. Mai kommt es nun zur Stichwahl. Im Gespräch mit Dawid Bartelt, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sprechen wir über die möglichen Gründe für den Wahlausgang und Prognosen für die Stichwahl.

Wie fair sind diese Wahlen abgelaufen? Zum einen während der Wahl selbst und zum anderen  im Vorhinein, was den Wahlkampf angeht.

Bezogen auf die Zeit vor der Wahl, ist die Antwort ein klares Nein. Diese Wahlen sind nie fair gewesen. Das liegt daran, dass wir seit Jahren eine schleichende Autokratisierung in der Türkei erleben, eine Verringerung wirklich demokratischer Räume. Was auch bedeutet, dass Kräfte, die nicht zur Regierung gehören - oppositionelle Parteien und Zivilgesellschaft, Kritikerinnen und Kritiker – sich nicht frei äußern, frei bewegen können, ohne Repressionen fürchten zu müssen. Die Medien sind ganz überwiegend in der Kontrolle oder gar in der Hand der Regierung beziehungsweise der Regierungspartei. Die Justiz ist nach 20 Jahren Erdogan personell so besetzt, dass sie auch im Wesentlichen so arbeitet, wie die Regierung das will. Und dann hat es eine Reihe von Gesetzesänderungen gegeben, die der Regierung jederzeit erlauben, Kritiker mundtot zu machen, indem man ihnen entweder Unterstützung des Terrorismus oder Verbreitung von Fake News vorwirft. Was die Wahl selbst angeht, kamen die internationalen Wahlbeobachter zu dem Schluss, dass sie ingesamt einigermaßen frei abgelaufen ist. Und es gab ja auch eine sehr hohe Wahlbeteiligung, was positiv ist.

Am Wahlabend ist Imamoğlu, der Istanbuler Bürgermeister, der bei einem Sieg von Kılıçdaroğlu Vizepräsident werden soll, vor die Presse getreten und hat gesagt: Am Ende dieser Nacht wird Kemal Kilicdaroglu türkischer Präsident sein. Er sollte nicht recht behalten, stattdessen liegt Erdogan deutlich vorne. Warum konnte Erdogan trotz Vetternwirtschaft und Korruption, Abbau des Rechtsstaats und schlechtem Krisenmanagement rund um das verheerende Erdbeben im Grenzgebiet Türkei/Syrien so viele Stimmen auf sich entscheiden?

Man darf nicht vergessen, dass die Türkei sich unter Erdogan enorm weiterentwickelt hat, nach einem traditionellen Entwicklungsverständnis. Das Pro-Kopf-Einkommen ist gestiegen, der Wohlstand gewachsen, es gibt eine moderne Infrastruktur: Straßen, Autobahnen, Schulen und Krankenhäuser. Da ist wirklich eine Menge passiert und die Leute vergessen das nicht. Und offenbar ist es Erdogan gelungen, diese beiden großen Krisen – also die Wirtschaftskrise mit der hohen Inflation zum einen, und das Erdbeben zum anderen, von seiner Person zu trennen.

Nach dem Erdbeben im Februar gab es sehr berechtigte Kritik, nicht nur am Management in den ersten 48 Stunden nach der Katastrophe, sondern auch daran, wie es sein kann, dass so viele Häuser, die erst in jüngster Zeit gebaut wurden, eingestürzt sind und Menschen getötet haben. Erdogan hat es aber geschafft, dass das Erdbeben doch sehr stark als Gottes Schicksal gesehen wurde, und er hat große Versprechungen gemacht, wie 300.000 Wohnungen innerhalb eines Jahres zu bauen. Was die Wirtschaftskrise angeht, ist es offenbar so, dass die Menschen in der Türkei einfach niemandem anderen als ihrem Vater Erdogan zutrauen, sie da wieder herauszuholen. An der Stelle hat die Opposition nicht überzeugen können, dass sie die bessere, die kompetentere Kraft sei, um diese Wirtschaftskrise zu bewältigen.

Nun kommt es am 28. Mai zur Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu. Letzterer hat gesagt, er werde die zweite Runde unbedingt gewinnen, denn der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung sei höher als 50 Prozent. Das, was ich jetzt von dir höre und auch das, was die Zahlen der ersten Runde sagen, geht aber in eine andere Richtung, nämlich dahin, dass Erdogan jetzt der klare Favorit ist bei dieser Stichwahl. Oder gibt es noch eine Chance für die Opposition?

Chancen gibt es immer. Allerdings steht die Opposition jetzt noch sehr unter dem Eindruck dieser großen Enttäuschung. Nichts anderes war das. Kilicdaroglu hat auf Twitter geschrieben: Wir sind hier und wir werden kämpfen. Aber es gibt natürlich so einiges, was zu Pessimismus Anlass gibt: Schon vorher war die Einschätzung vieler Beobachter, dass wenn Erdogan es in den zweiten Wahlgang schafft, seine Chancen zu gewinnen deutlich steigen, weil er noch mal zwei Wochen Zeit hat, seinen ganzen Apparat zu nutzen, um sich zusätzliche Unterstützung zu verschaffen. Und er hat auch schon Andeutungen gemacht, die sich auf den Putschversuch von 2016 bezogen. Also er hat sozusagen der Opposition damit gedroht, Militär und Polizei auf die Straße zu schicken. Trotzdem muss man auch sehen: Er hat deutlich weniger Stimmen bekommen als bei der letzten Wahl, auch seine Partei hat Stimmen verloren. Und Kilicdaroglu ist es gelungen, mehr Stimmen gegen Erdogan zu erhalten als alle Herausforderer zu vor ihm. Beunruhigend ist, dass aber viele, die Erdogan nicht gewählt haben, ihre Stimme rechten, nationalistischen Parteien und dem rechtsnationalen Präsidenschaftskandidaten Sinan Ogan gegeben haben. Das sind zum Teil sehr rassistische und ultranationalistische Kräfte. Dass Ogan fünf Prozent kriegen würde, damit hat vorher niemand gerechnet.

Genau, und das macht Sinan Ogan jetzt zu einer Art Königsmacher, weil es eben bei der Stichwahl auch darauf ankommt, wen der beiden er jetzt unterstützt. Hat er sich dazu schon konkret geäußert?

Konkret nicht*, was er aber angedeutet hat, ist, dass für seine Unterstützung die kurdischen Parteien keine Rolle spielen dürften in der türkischen Politik, damit ist wohl vor allem die HDP gemeint. Diese Haltung wäre sehr in Übereinstimmung mit dem rechtsextremen politischen Programm, für das er steht, und dass unter anderem auch die Abschiebung syrischer Geflüchteter enthält. Auf diese Forderungen könnte Kilicdaroglu natürlich nicht eingehen. Er hat eine informelle Absprache mit der HDP, die zwar nicht Teil seiner Koalition ist, aber darauf verzichtet hat, einen eigenen Präsidentschaftskandidat aufzustellen und ihm ihre Unterstützung im Parlament zugesagt hat. Außerdem wäre es eine Milchmädchenrechnung, denn Kilicdaroglu  braucht die knapp 9 Prozent, die das Bündnis Grüne, Linkspartei und HDP erzielt hat. Erdogan dagegen fehlt zum Sieg nur noch ein halber Prozentpunkt und es ist deutlich wahrscheinlicher, dass er den von den Anhängern Ogans bekommt, weil dieser ein politisches Programm vertritt, das sich stark mit dem von Erdogans Koalition deckt. Es sieht also wirklich nicht gut aus für Kilicdaroglu.

Die Opposition hatte es diesmal erstmals geschafft, sich zu vereinen, sechs Parteien stehen hinter Kilicdaroglu. Das war auch ein Grund, warum die Hoffnung, Erdogan zu besiegen, so groß war. Jetzt hat es voraussichtlich trotzdem nicht gereicht. Du hast schon viele Gründe genannt, warum Erdogan doch so stark abgeschnitten hat. Gibt es denn auch Fehler, die die Opposition im Wahlkampf gemacht hat?

Ich persönlich fand den Wahlkampf von Kilicdaroglu intelligent, mit diesen Videos aus der Küche, auch mit dem Thematisieren der trennenden Identitäten. Politik in der Türkei ist immer noch ganz stark über kulturelle und religiöse Identitäten organisiert. Es gibt dieses berühmte Video, in dem Kilicdaroglu sagt: Ich bin Alevit und das kann ich mir nicht aussuchen. Damit bin ich geboren worden. Aber ich kann mir andere Identitäten aussuchen. Ich kann ehrlich sein, ich kann verlässlich sein, ich kann demokratisch sein. Ich fand das genial. Aber andere vielleicht nicht. Konservative sunnitische Moslems fanden den Gedanken, dass ein Alevit ihr oberster Präsident wird, vielleicht  nicht so attraktiv oder hatten sogar Angst davor.

Das Sechser-Bündnis der Oppisition hat bisher erstaunlich gut funktioniert. Erstaunlich, weil die Parteien politisch sehr heterogen ist. Das kann man natürlich als Geburtsfehler betrachten. Koalitionen sind in der Türkei nicht so üblich im politischen System. Das kann eine Skepsis hervorrufen bei Wählerinnen und Wählern, die sich in der Krise vor einer Regierungsunfähigkeit fürchten. Aber die Opposition hat es  immerhin geschafft, ein 250 Seiten strakes Koalitionsprogramm vorzulegen, das alle Politikbereiche anspricht und sehr konkrete Positionen und Maßnahmen aufführt. Das ist eine große politische Leistung, die aber nicht honoriert wurde, jedenfalls nicht ausreichend, um nun tatsächlich den Wandel herbeizuführen. Trotzdem sollte man nicht vorschnell das Wort Niederlage benutzen. Gemessen an den großen Hoffnungen, nach 20 Jahren dieses Land noch mal deutlich zu verändern – ja. Aber rein numerisch hat die Opposition mehr Menschen überzeugt als in den vorherigen Wahlen. Nur eben nicht genug für einen Machtwechsel.

Was würde ein Sieg von Erdogan bedeuten? Für die Türkei, aber auch außenpolitisch?

Erdogan ist, bei aller Ideologie, ein hoch pragmatischer Politiker. Pragmatisch in dem Sinne, dass er tut, was seinem Machterhalt und Machtzuwachs nützt. Und er kennt ja auch die Kritiken. Ein Beispiel: Auch wenn er in der Rhetorik sehr stark antiwestlich unterwegs ist, wird er die Beziehungen zur EU nicht kappen. Er weiß um die wirtschaftliche Bedeutung der Türkei-EU-Beziehungen. Er hat auch gesagt, er wird aus dem Beitrittsprozess nicht austreten. Zwar wissen sie in der EU genauso wie in der Türkei, dass die Türkei in absehbarer Zeit nicht der EU beitreten wird. Aber dieser Beitrittsprozess ist ein Instrument, ein Vehikel, um noch geordnete politische Kommunikation und auch Verhandlungen durchzuführen. Auch sonst wird er außenpolitisch wohl sein Programm fortführen. Es gibt kleine Anzeichen für eine Annäherung mit Griechenland, möglicherweise die Wiederaufnahme von Gesprächen mit Assad in Syrien. Für seine politischen Gegner wäre seine Wiederwahl natürlich fatal. Kilicdaroglu hatte die Freilassung politischer Gefangener versprochen, unter Erdogan werden sie im Gefängnis bleiben: zum Beispiel der Menschenrechtsaktivist Osman Kavala oder Selahattin Demirtaş, der ehemalige Vorsitzende der HDP.

 

Dies ist die gekürzte Version eines Gesprächs, das am 15. Mai 2023 live auf Twitter geführt wurde. Hier könnt ihr das ganze Gespräch nachhören (ab Min: 2:55).  Das Interview führte Laura Endt.

 

 

*Inzwischen hat Sinan Ogan seine “Bedingungen” konkretisiert. Die regierungsnahe Zeitung Hurriyet berichtete am 16. Mai, dass dazu die "Beibehaltung der Unveränderlichkeit der ersten vier Artikel der Verfassung" gehörten, die sich auf die einheitliche Struktur des Staates, die Grundsätze der Republik, die Sprache, die Nationalhymne und die Flagge beziehen. Die Verhinderung von Versuchen, das "Türkentum" aus der Verfassung zu streichen, die "Distanzierung der Parteien von terroristischen Organisationen", die Rückkehr zu einer orthodoxeren Wirtschaftspolitik und die Sicherstellung der "Rückkehr von 13 Millionen Flüchtlingen" wurden ebenfalls als Teil von Ogans Forderungen hervorgehoben.