Russische Atomkraft für die ganze Welt – außer für Russland?

Hintergrund

Die Atomenergie in Russland gehört vollständig dem Staat und finanziert sich aus Steuermitteln. Der staatliche Konzern „Rosatom“ umfasst sowohl zivile als auch militärische Atomtechnik-Unternehmen. Es ist der größte Produzent von Atomkraftwerken (AKW) weltweit, dessen Geschäfte sich mehr auf Projekte in anderen Ländern als auf Russland selbst erstrecken. Dank großer Kapazitäten für die Urananreicherung, die Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion geblieben waren, kontrolliert Rosatom heute 17% der weltweiten Produktion nuklearer Brennstoffe.

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Atomkraftwerk in Novoworonesch, Russland

Neubauten innerhalb Russlands stark reduziert

Rosatom betreibt in Russland 11 AKW mit 37 Reaktorblöcken. Zudem wird auf Tschukotka das schwimmende AKW „Akademik Lomonossow“ mit zwei Kleinreaktoren vom Typ KLT-40 Strom erzeugt. Die Atomkraft deckte damit in Russland im Jahr 2020 20% der Stromerzeugung ab.

Das schwimmende AKW stellt einen Ersatz für das alte AKW Bilibinsk dar. Dort wurde 2019 der erste Reaktor abgeschaltet. Drei weitere sollen bis 2025 folgen. Aus früheren Jahren sind Einschätzungen von Spezialisten aus der Atomwirtschaft dokumentiert, dass die schwimmenden Kraftwerke im Betrieb sehr teuer seien.

Ihre Fertigstellung war ursprünglich bereits für 2008 vorgesehen, aber der Bau verzögerte sich um mehr als 10 Jahre. Ökologen haben das Projekt „ein schwimmendes Tschernobyl“ genannt, wegen Sicherheitsbedenken und Risiken in Bezug auf die nukleare Nichtweiterverbreitung.

Im Jahr 2020 befanden sich drei Reaktoren an den Standorten Kursk und Leningrad in Bau (obwohl die Stadt Leningrad nach dem Ende der Sowjetunion in St. Petersburg umbenannt wurde, heißt das AKW nach wie vor „Leningrader AKW“). Die neuen Blöcke werden dort verbliebene Reaktoren des Tschernobyler Typs RBMK 1000 ersetzen, die dort nach und nach abgeschaltet werden.

Am Leningrader AKW wurde der erste von vier RBMK-1000 zum Ende des Jahres 2018 abgeschaltet, der zweite Ende 2020. Die zwei verbliebenen Altreaktoren sollen bis 2025 auslaufen. Als Ersatz sind zwei VVER-1200-Reaktoren vorgesehen, von denen einer bereits am Netz ist, der zweite kurz vor der Fertigstellung. Ob es einen weiteren Ersatz für den dritten und vierten Reaktor geben wird ist nicht absehbar.

Am Standort Kursk sind noch vier Blöcke des Tschernobyler Typs am Netz. Der erste von ihnen soll Ende dieses Jahres, ein weiterer Ende 2024 abgeschaltet werden, die verbleibenden in den Jahren 2028 und 2030. Als Ersatz werden seit 2018 zwei neue Reaktoren des Typs VVER-TOI gebaut (eine Weiterentwicklung des Typs VVER-1200). Wie am Leningrader Standort, so ist auch hier der Ersatz der weiteren noch verbliebenen Altreaktoren ungewiss.

Die Reaktortypen VVER-1200 und VVER-TOI sind relativ neue Entwicklungen. In Fachkreisen werden Debatten über die Zuverlässigkeit dieser Reaktortypen geführt. Unfälle lassen sich auch bei diesen Typen nicht vollständig ausschließen. Rosatom verlautbart, der VVER-TOI-Typ würde erheblich preiswerter als seine Vorgängerversionen, aber unabhängige Bestätigungen dieser Information gibt es bislang nicht. Kritiker/innen halten die VVER-1200-Reaktoren für deutlich teurer als die offiziell erklärten 5 Milliarden US-Dollar. (Russian nuclear industry overview, PDF)

Die Abschaltung eines AKW stellt für sich genommen eine komplexe technologische und finanzielle Aufgabe dar, die Russland nun bevorsteht. Inzwischen sind bereits 8 Reaktoren abgeschaltet, und bis zu 15 weitere folgen in den kommenden 10 Jahren. Die genauen Kosten von Abschaltung und Rückbau sind bislang unbekannt. Die russische Atomindustrie schätzt, sie könne den Rückbau um einen „deutlich zweistelligen Prozentwert günstiger als in den USA“ bewerkstelligen. Dort kostet der Rückbau etwa 10 Milliarden US-Dollar pro Reaktor.

In Russland haben sich mehr als 500 Millionen Tonnen radioaktive Abfälle angesammelt, einschließlich 1 Millionen Tonnen Uranabfälle, von denen ein Teil aus Deutschland stammt. Zudem sind bis zu 25.000 Tonnen abgebrannter Kernbrennstoffe aus AKW in den Beständen. Die Atomindustrie plant deren Aufbereitung für die Wiederverwendung. Die Kapazitäten für die Aufbereitung sind jedoch sehr gering, deshalb dürfte der Prozess mehrere Jahrzehnte benötigen. Auch das Ziel der angestrebten Aufbereitung ist unklar, denn die Wiederverwendung erfolgt in Brutreaktoren, von denen es in Russland aber nur zwei Stück gibt. Die Aufbereitung ist zudem ein ökologisch sehr schädlicher Prozess, da sich im Prozess die Volumina radioaktiver Abfälle mehr als verhundertfachen.

Die Versuche der Errichtung neuer Lagerungskapazitäten für radioaktive Abfälle stoßen bei der Bevölkerung auf Ablehnung. Auch gegen die Einfuhr radioaktiver Abfälle aus anderen Ländern, darunter auch Deutschland, protestieren Bürger/innen. Die partizipative Mitwirkung an behördlichen Planungen ist in Russland dabei besonders schwierig, insbesondere wenn es um die Atomenergie geht. Umweltaktivist/innen stehen unter ständigem Druck, und Kritik an der Atomenergie wird von den Behörden mit Widerstand gegen die staatlichen Interessen gleichgesetzt. Infolgedessen bleibt die staatliche Aufsicht über die Atomindustrie sehr schwach, insbesondere über den Präsidentennahen Staatskonzern Rosatom mit seiner wichtigen strategischen Rolle. Der Grund dafür ist offensichtlich nicht nur die militärische Komponente von Rosatom, sondern auch seine „geopolitische“ Rolle, denn das Staatsunternehmen verkauft Atomreaktoren und Brennstoffe in die ganze Welt.

Der Bau von AKW in anderen Ländern

Rosatom erklärt, man baue 35 neue Reaktoren in verschiedenen Ländern der Welt, darunter in den EU-Staaten Finnland und Ungarn. Auch bemüht sich der Konzern um den Auftrag für den Bau eines AKW in Bulgarien.  Der Gesamtwert der Auslandsprojekte von Rosatom betrage mehr als 130 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2020 plante man einen weiteren Vertrag mit Usbekistan, der jedoch zunächst wegen der Corona-Pandemie nicht zustande kam.

Unabhängige Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass die von Rosatom präsentierten Zahlen stark aufgebläht sind. Im Frühjahr 2020 konnte Rosatom wirkliche Verträge für den vollständigen oder teilweisen Bau nur für 25 Reaktoren mit einem Gesamtwert von ca. 100 Milliarden US-Dollar vorweisen. Auch wenn man diese niedrigeren Zahlen zugrunde legt, bleibt Rosatom nichtsdestotrotz der größte Akteur auf dem Markt für AKW-Neubauten in der Welt. Diese Situation erklärt sich allerdings auch dadurch, dass der Staatskonzern praktisch unbegrenzten Zugang zum russischen Staatshaushalt hat und seine Geschäfte weitgehend auf Kosten der Steuerzahlenden finanzieren kann. Bei der Suche nach weiteren Investoren war Rosatom bislang nicht sehr erfolgreich. Nur Iran finanziert das AKW in Buschehr aus eigenen Mitteln.

Diese Privilegierung Rosatoms hängt damit zusammen, dass der Kreml im Export von AKW auch ein geopolitisches Einflussinstrument sieht. Im Falle ärmerer Länder sind die russischen Kreditfinanzierungen ein Mittel, die Länder in größere Abhängigkeit von russischer Technologie, Energieressourcen und Kapital zu bringen. In anderen Fällen handelt es sich um die Ausweitung des politischen Einflusses und der Pflege der politischen Loyalität, wie etwa im Falle Ungarns und Belarus. Die ökonomischen Rahmendaten der AKW-Projekte lassen keinen Zweifel: Kommerzielle Gewinne sind nicht das hauptsächliche Ziel dieser Geschäfte.