„Das Problem ist nicht fehlende Bereitschaft“

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Schwangerschaftsabbrüche gehören zur Gesundheitsversorgung– und sind laut der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation ein Menschenrecht. Trotzdem bleibt er in Deutschland kriminalisiert, stigmatisiert und schwer zugänglich. Anlässlich des Safe Abortion Day am 28.9.2025 sprechen wir im Interview mit Rona Torenz und Annika Kreitlow über die Ergebnisse der ELSA-Studie, die Versorgungslage rund um Schwangerschaftsabbrüche und darüber, warum das Thema weiterhin politisch auf die Agenda gehört und wie wir gemeinsam Druck machen können.

Amina: Annika, du führst als Ärztin Schwangerschaftsabbrüche durch. Kannst du beschreiben, wo du aktuell die größten Herausforderungen in Deutschland in Bezug auf das Thema siehst?

Annika: Aus meiner Sicht sitze ich natürlich in einer privilegierten Position: in einer Praxis in Berlin. Hier ist die Versorgungslage vergleichsweise gut – es gibt viele Praxen und Beratungsstellen, und die meisten Schwangeren kommen früh zu uns, sodass ein früher Abbruch möglich ist. In anderen Regionen Deutschlands sieht das aber ganz anders aus. Eine der größten Herausforderungen ist, dass die Zahl der Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, immer kleiner wird. Dadurch sinken die Kapazitäten, und viele Schwangere müssen lange Wege auf sich nehmen. Aber damit ist es nicht getan: Vor dem Abbruch gibt es die Pflichtberatung, oft ebenfalls mit weiter Anreise. Dann kommt die gesetzliche Wartefrist von drei Tagen, die medizinisch unnötig ist und den Abbruch nur hinauszögert. Hinzu kommt die Frage der Kosten. Abbrüche werden nicht grundsätzlich von den Krankenkassen übernommen. Es gibt zwar eine Kostenübernahme für Menschen unter einer bestimmten Einkommensgrenze, aber viele müssen den Eingriff selbst bezahlen. Für sie ist das eine erhebliche Belastung. Das alles zeigt: 

Die Hürden sind sehr unterschiedlich. Je mehr Privilegien und Ressourcen jemand hat – etwa ein Auto, Kinderbetreuung, finanzielle Sicherheit oder Unterstützung im privaten Umfeld – desto leichter ist es, einen Abbruch zu bekommen. 

Wer aber weit draußen wohnt, kein Auto hat, Kinder versorgen muss oder zusätzlich von Diskriminierung betroffen ist, hat es ungleich schwerer.

Amina: Rona, du warst ja an der ELSA-Studie beteiligt. Kannst du kurz erzählen, wie sie zustande kam, was genau untersucht wurde und was für dich die wichtigsten Ergebnisse sind?

Rona: ELSA steht für „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“. In den Medien war sie früher als „Spahn-Studie“ bekannt, weil Jens Spahn sie damals als Gesundheitsminister angestoßen hat. Sein ursprüngliches Ziel war, psychische Langzeitfolgen von Abbrüchen zu belegen. Das hat aber einen riesigen Aufschrei ausgelöst, weil der internationale Forschungsstand klar zeigt: Diese Folgen gibt es nicht. Was man stattdessen erforschen müsste, ist die Versorgungssituation bei ungewollten Schwangerschaften – egal ob abgebrochen oder ausgetragen. Am Ende wurde daraus, mit Forscherinnen wie Daphne Hahn und Cornelia Helfferich, eine großangelegte interdisziplinäre Studie, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium mit 5 Millionen Euro. Sechs Hochschulstandorte waren beteiligt. Erforscht wurden ungewollte Schwangerschaften – sowohl Abbrüche als auch ausgetragene. Wichtig ist: Etwa die Hälfte der ungewollten Schwangerschaften wird ausgetragen, dieser Aspekt geht oft unter. Die Studie hat viele Methoden kombiniert: standardisierte Befragungen von Betroffenen, Vertiefungsinterviews mit Menschen, die abgebrochen oder ausgetragen haben, auch mit Partnern. Dazu kamen Befragungen von Ärzt*innen, Beratungsfachkräften, Expert*innen aus Landesministerien. Also wirklich sehr breit angelegt. 

Amina: Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Erkenntnisse für die politische Debatte? Und wie sind besonders vulnerable Gruppen von den Zugangsschwierigkeiten betroffen?

Rona: Es gab eine mehrere Teilstudien zu sogenannten vulnerablen Gruppen: Frauen mit psychischen Erkrankungen, traumatischen Kindheitserfahrungen, illegalisierte Frauen, Betroffene von Partnerschaftsgewalt und Frauen mit Migrationsgeschichte, die von verschiedenen Hochschulstandorten durchgeführt wurden Überraschend war: Wir konnten keinen klaren Zusammenhang zwischen den klassischen soziodemographischen Merkmalen wie Bildung, Alter, finanzielle Situation  und einem schlechteren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen feststellen – anders als es der internationale Forschungsstand nahelegt. Stattdessen zeigte sich für viele Barrieren ein  Zusammenhang mit dem Wohnort: 

Vor allem im Westen und Süden Deutschlands ist die Versorgung schlechter, mit längeren Wegen, höheren Kosten und mehr Belastungen. 

Dass andere Ungleichheiten nicht sichtbar wurden, liegt wohl auch daran, wie Merkmale erhoben wurden. „Migrationsgeschichte“ wurde etwa erfasst, Erfahrungen mit Rassismus aber nicht – das macht einen großen Unterschied. Ein weiterer Punkt ist der Zugang zu Informationen. Viele finden es schwer, verlässliche Infos über Abbrüche zu bekommen. Interessanterweise berichteten Menschen mit höherem Bildungsgrad häufiger von unzureichenden Informationen – vermutlich, weil sie besonders hohe Ansprüche an Qualität und Vollständigkeit der Informationen stellen.

Sehr zentral ist auch die Stigmatisierung: Über 80 % der Befragten berichteten von Scham- oder Schuldgefühlen oder der Erwartung, verurteilt zu werden – oft ganz unabhängig von tatsächlichen Kommentaren. Das zeigt, wie stark innere Stigmatisierung wirkt und das psychische Wohlbefinden belastet. Es widerlegt auch das Argument, Kriminalisierung sei überflüssig, weil es angeblich keine gerichtlichen Verurteilungen mehr gebe. Und zuletzt: 

Viele Ärzt*innen wären grundsätzlich bereit, Abbrüche anzubieten – wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Das Problem ist also nicht fehlende Bereitschaft, sondern die vielen organisatorischen Hürden.

 Politisch gäbe es hier viel Spielraum, um die Versorgungslage spürbar zu verbessern.

 

 

Fortsetzung des Interviews

Amina: Vielen Dank. Du hast jetzt schon einiges gesagt. Wo siehst du noch Lücken, oder an welchen Punkten müsste eine weitere Studie – auch wenn sie wahrscheinlich so schnell nicht kommt – deiner Meinung nach ansetzen? 

Rona: Man könnte genauer untersuchen, welche Erfahrungen Menschen machen, die von Rassismus betroffen sind – insbesondere in der Versorgung beim Schwangerschaftsabbruch. Dabei wäre spannend zu sehen, ob sich auch ihre Stigmatisierungserfahrungen unterscheiden, zum Beispiel durch bevölkerungspolitische Zuschreibungen. 

Ein weiterer Punkt, der in der bisherigen Studie komplett fehlt, ist das Thema Behinderung – sowohl bei Menschen mit kognitiven als auch mit körperlichen Einschränkungen. Welche Zugangsbarrieren und welche Formen von Stigmatisierung erleben sie? Das wäre sehr wichtig zu erforschen.


Außerdem lag unser Fokus bisher klar auf Schwangerschaftsabbrüchen nach der verpflichtenden Beratung. Für Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer oder kriminologischer Indikation wissen wir dagegen viel zu wenig. Hier gibt es erhebliche Forschungslücken und einen großen weiteren Forschungsbedarf.

Amina: Annika, du kennst die Ergebnisse der ELSA Studie schon. Was ist deine Einschätzung aus der Praxis – zu Zugang, Hürden und den wichtigsten Punkten?

Annika: Ich möchte auf zwei Punkte eingehen. Erstens die Stigmatisierung von Schwangeren. In meinem Alltag     erlebe ich oft, dass Patientinnen vor einem Abbruch schon abwertende Kommentare gehört haben – von Ärzt*innen oder aus dem Umfeld. Viele sind dann überrascht, dass sie bei uns respektvoll behandelt werden, keine Verurteilung erleben und keine dummen Kommentare bekommen. Manche sind irritiert und fragen sich: „Warum sind Sie so nett? Ich mache doch etwas Verbotenes.“ Zweitens die Situation der Ärzt*innen. Es gibt viele, die Abbrüche durchführen könnten, es aber aus verschiedenen Gründen nicht tun. Ein Grund sind die unterschiedlichen Vorgaben in jedem Bundesland – man muss sich mühsam einlesen, welche Voraussetzungen gelten. Dazu kommt, dass Abbrüche im Studium und in der Facharztausbildung kaum vorkommen. Wer seine Ausbildung z. B. in einem katholischen Krankenhaus macht, kann fünf Jahre arbeiten, ohne je einen Abbruch gesehen zu haben. Viele wissen also gar nicht, wie es geht, und müssten sich später mühsam weiterbilden. Hinzu kommt der komplizierte Sondervertriebsweg für Medikamente. Sie müssen direkt beim Hersteller bestellt, einzeln dokumentiert und oft in Vorkasse bezahlt werden – ein enormer bürokratischer Aufwand. Auch die Abrechnung ist umständlich: Statt wie üblich automatisch mit der Kasse, muss jede Kostenübernahme einzeln eingereicht werden, und die Erstattung dauert lange. Ein weiterer Punkt ist die Angst vor Stigmatisierung – nicht nur bei den Schwangeren, sondern auch bei Ärztinnen und Ärzten. Viele fürchten Proteste von Abtreibungsgegner*innen oder Kritik aus dem persönlichen Umfeld, wenn bekannt wird, dass sie Abbrüche durchführen. Das alles sind Hürden, die viele davon abhalten, sich stärker für das Thema einzusetzen.

Amina: Nochmal zur ELSA Studie: Wir haben jetzt ja lange auf die Veröffentlichung der Studie durch das Gesundheitsministerium gewartet. Glaubt ihr, die Ergebnisse wurden bewusst verzögert? Und wie schätzt ihr die politische Lage zum Schwangerschaftsabbruch insgesamt ein? Warum ist es so schwer, über die Ergebnisse zu sprechen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen?

Rona: Mich erinnert das an den Kommissionsbericht: Damals gab es zwar eine Pressekonferenz, aber danach passierte nichts. Bei der Studie jetzt gab es zwar Berichterstattung, aber keine Pressekonferenz – und wieder passiert nichts. 

Ich habe das Gefühl, die Parteien wollen das Thema Abbruch nicht wirklich anfassen. 

Ein Antrag auf Gesetzesänderung scheiterte, weil CDU und FDP nicht mitmachen wollten. Besonders die CDU stellt sich klar dagegen. Die Empfehlungen der Studie – Entkriminalisierung und bessere Bedingungen für Ärztinnen – stehen im Konflikt mit deren Positionen. So bleibt ein 1000-Seiten-Bericht ohne Folgen. Ob die Veröffentlichung verschleppt wurde, weiß ich nicht. Es hat Monate gedauert, auch wegen des Regierungswechsels. 

Auffällig ist aber, dass eine so große Studie ohne Pressekonferenz veröffentlicht wurde. Das deutet darauf hin, dass man das Thema klein halten wollte, weil es nicht in die politische Agenda passt.


Annika: Die Veröffentlichung im Sommerloch könnte auch Absicht gewesen sein – um Aufmerksamkeit zu vermeiden. Vielleicht war es aber Zufall. 

Rona: Andererseits war das Thema durch den Fall Volz in Lippstadt und durch die Angriffe auf Frauke Brosius Gersdorff gerade präsent. Das könnte auch hilfreich sein, um mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Und der Druck von Grünen und Linken hat sicher mit dazu beigetragen, dass der Bericht überhaupt veröffentlicht wurde.

Amina: Warum ist es wichtig, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch auf der Agenda bleibt? Und wie seht ihr das im Kontext von wachsendem Antifeminismus, gerade auch nach dem Fall Brosius-Gersdorf, in dem das Thema stark instrumentalisiert wurde um bewusst ihre Wahl ans Bundesverfassungsgericht zu verhindern?

Annika: Es gibt verschiedene Ebenen. Ein zentrales Argument von konservativer Seite ist immer wieder das sogenannte Märchen vom „gesellschaftlichen Frieden“. Sie sagen: Lasst uns nicht über Schwangerschaftsabbrüche reden, sonst bekommen wir Verhältnisse wie in den USA. Alles sei doch gut so, wie es ist, wir hätten einen funktionierenden Kompromiss. Das klingt für viele erst einmal vernünftig, wenn man nicht tief in der Debatte steckt. Aber das stimmt nicht. 

Wir haben keinen gesellschaftlichen Frieden und auch keine gute Versorgungslage. Im Gegenteil: Sie ist schon jetzt schlecht, wie wir vorhin dargelegt haben, und sie wird noch schlechter werden.

 Viele Ärztinnen und Ärzte, die derzeit die Versorgung in unterversorgten Regionen sichern, gehen in den nächsten fünf bis zehn Jahren in Rente. Manche hätten das längst tun können. Wenn wir nichts ändern, stehen wir bald vor einem noch größeren Problem. Dieser Aspekt wird oft vergessen. 

Darum ist das Argument vom „Kompromiss“ so gefährlich. Es nützt vor allem Abtreibungsgegner*innen und Fundamentalist*innen, weil die Situation für sie eigentlich ideal ist: rechtlich schwierig, praktisch schlecht organisiert, mit zu wenigen Ärzt     innen und vielen Hürden. Deshalb müssen wir immer wieder klar machen: Es ist nicht „okay so“, es ist kein guter Kompromiss – es ist schon jetzt untragbar.

Für die feministische Zivilgesellschaft bedeutet das: Wir müssen das Thema weiter auf der Agenda halten und uns nicht beruhigen lassen.

 Politisch wäre es für Parteien wie die CDU am einfachsten, gar nichts zu tun und die Dinge laufen zu lassen. Aber das hieße Stillstand oder sogar Rückschritt. Im Koalitionsvertrag steht immerhin, dass die Versorgungslage verbessert werden soll. Das muss die Regierung jetzt auch umsetzen – und zwar mit den Vorschlägen von Expert*innen aus der Studie. Dazu gehört auch, endlich den §218 anzugehen, weil er einer der zentralen Gründe für die schlechte Lage ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Thema weiter hochhalten, Druck machen und verhindern, dass es in Schweigen versinkt. Nur so können wir erreichen, dass sich wirklich etwas verbessert.

Rona: Ich kann Annika nur zustimmen und möchte noch etwas ergänzen. Zum Thema „gesellschaftlicher Frieden“: 

Aktuelle Studien zeigen klar, dass die große Mehrheit in Deutschland – auch viele CDU-Wähler*innen – für eine Entkriminalisierung und die Abschaffung von §218 ist. 

Trotzdem stellt sich die CDU gerne als Bewahrerin des Friedens dar, während sie in Wahrheit eine laute Minderheitenmeinung vertritt und versucht, diese gegen die Mehrheit durchzusetzen. Wichtig ist auch der historische Blick: Unser heutiger, sogenannter „Kompromiss“, von dem gern geredet wird, geht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zurück. Dieses Urteil hat aber den eigentlichen, demokratisch errungenen Kompromiss des Bundestags von 1992 der eine Fristenregelung vorsah – auf Antrag von CDU/CSU gekippt. Eigentlich waren also sie diejenigen, die gespalten haben, auch wenn sie heute anderen genau das vorwerfen. Und natürlich gilt: Wenn wir nichts unternehmen, wird die Versorgungslage noch schlechter. In Bayern sieht man es aktuell deutlich: Dort wurde die telemedizinische Begleitung beim Schwangerschaftsabbruch verboten, was den Zugang für ungewollt Schwangere weiter erschwert.

Annika: Ein weiteres Beispiel ist Lippstadt: Durch die Fusion eines evangelischen mit einem katholischen Krankenhaus wurden Abbrüche gestrichen, obwohl sie vorher im evangelischen Haus möglich waren. Ähnliches gab es schon in Flensburg. 

Solche Fusionen werden mit der Krankenhausreform häufiger, meist setzt sich dabei die katholische Seite durch. Das wird also kein Einzelfall bleiben.

Amina: Welche feministischen Narrative brauchen wir? Sollen wir ein eigenes Narrativ setzen, statt immer nur auf Gegner*innen zu reagieren?

Annika: Ja, absolut. Erstmal: Es gibt ein Menschenrecht auf Gesundheit – und dazu gehören reproduktive und sexuelle Gesundheit. Schwangerschaftsabbruch fällt darunter, und Deutschland wurde für die Einschränkung dieses Menschenrechts       schon international kritisiert.

Aus ärztlicher Sicht: Unser Job ist, Gesundheit rund um Schwangerschaft zu begleiten. Dazu gehören auch ungewollte Schwangerschaften und Fehlgeburten. Dass die Behandlung von Fehlgeburten notwendig ist, stellt niemand in Frage. 

Aber bei Abbrüchen wird plötzlich so getan, als sei das etwas völlig anderes. Das ist unlogisch – beides gehört dazu. Und gesellschaftlich: Ungewollte Schwangerschaften wird es immer geben. Abbrüche hat es schon immer gegeben und wird es immer geben – egal, welche Gesetze man erlässt. Deshalb sollten wir Abbrüche endlich als normalen Teil von Gesundheit und reproduktiver Gerechtigkeit sehen.

Rona: Es geht nicht nur um Gesundheit, sondern auch um Lebensrealität. So wie Sexualität Teil des Lebens ist, sind es auch Schwangerschaften – auch ungeplante oder ungewollte, die dann abgebrochen werden. Wir sollten das als normalen Bestandteil der Lebensrealität von Menschen begreifen. 

Und es darf nicht so wirken, als sei das nur ein „nice to have“, bei dem Ärzt*innen entscheiden können, ob sie es anbieten oder nicht. Bei einem Herzinfarkt würde man ja auch nicht sagen: „Damit kenne ich mich nicht so aus, gehen Sie woanders hin.“ Für mich gehört das klar zur Kernaufgabe gynäkologischer Versorgung.

Amina: Vielen Dank euch für die spannenden Antworten! Wir machen das Interview ja auch anlässlich des Safe Abortion Day. Da kommt oft die Frage: Was kann ich eigentlich tun, wenn ich mich engagieren will – gerade auch für Entkriminalisierung? Habt ihr Ideen, wie Leute aktiv werden können, auch wenn sie nicht politisch organisiert sind?

Rona: Es gibt natürlich viele Demos an dem Tag. Da lohnt es sich, zu schauen: Wo ist in meiner Nähe etwas geplant? Einfach hingehen, mitlaufen, mit Passant*innen ins Gespräch kommen. Ich finde es außerdem spannend, auch lokal mal genauer hinzuschauen: Wer bietet in meiner Region eigentlich Schwangerschaftsabbrüche an? Wie sieht die Versorgungssituation aus? Sich dazu informieren, mit anderen vernetzen und überlegen, wie man konkret Verbesserungen erreichen kann – zum Beispiel auch im Gespräch mit dem Stadtparlament. Die ELSA-Studie schaut ja eher auf den großen Rahmen, aber vor Ort ist die Situation oft sehr unterschiedlich. 

Abbrüche passieren eben auch direkt in deiner Stadt, im Leben deiner Freund*innen. Darüber zu reden ist wichtig. Denn ein Teil der Stigmatisierung ist ja auch, dass viele gar nicht über ihre Abbrüche sprechen. Schon im eigenen Umfeld das Thema offener zu machen, kann helfen.

Annika: Ja, und ich finde, beides ist wichtig: informieren und organisieren. 

Politisch organisieren heißt auch, sich mit anderen Themen zu vernetzen, weil das alles zusammenhängt – Armut, Ungleichheit, Rassismus, Queer- und Transfeindlichkeit haben alle Einfluss auf den Zugang zu Abbrüchen. 

Es lohnt sich also, über den Tellerrand zu schauen und Bündnisse zu bilden. Aber auch ganz persönlich kann man viel tun. Sich Wissen aneignen: Wie läuft ein Abbruch ab? Was braucht man dafür? So kann man im eigenen Umfeld Betroffene unterstützen – zum Beratungsgespräch begleiten, bei der OP abholen oder einfach da sein. Oft wird verlangt, dass jemand nach einer OP abholt – diese Person kann man sein, auch wenn man nicht direkt befreundet ist.In einigen Städten gibt es mittlerweile Netzwerke wie Abortion Buddy Dort melden sich Menschen, die sagen: „Ich kann dich begleiten, egal ob ins Gespräch, zur OP oder nach Hause.“ Das ist eine ganz konkrete und wertvolle Form der Unterstützung, die jede*r leisten kann.

 

Ich bin Annika Kreitlow. Ich bin Ärztin, aktuell in Weiterbildung zur Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Ich arbeite zur Zeit in einer gynäkologischen Praxis in Berlin und mache da sehr viele Schwangerschaftsabbrüche. Ich habe mich aber auch vorher schon, bevor ich diese Stelle angefangen habe, viel aktivistisch mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigt. Ich bin im Beirat von Doctors for Choice und aktuell auch im Koordinierungskreis vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, von dem wir sehr viel Kampagnen und sehr viel aktivistische Arbeit auch in den letzten Jahren rund um die Abschaffung von Paragraf 218 und Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gemacht haben.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.gwi-boell.de