Wie der 7. Oktober uns alle verändert hat – und was das für unsere politischen Anliegen bedeutet

Kommentar

Es kann schwierig sein, einen historischen Moment zu erkennen, während man ihn gerade durchlebt, aber in Israel-Palästina ist er diesmal nicht zu übersehen. Hier nun das, was wir wissen und das, was wir nach einem Monat vermuten können.

Israelische und palästinensische Flagge vor blauem Himmel

Die englische Originalversion des Artikels wurde am 8. November 2023 zuerst beim +972 Magazine veröffentlich.


Seit dem 7. Oktober ist ein Monat vergangen. Die Leben von Millionen von Israelis und Palästinenser*innen wurden an diesem Tag durch die von der Hamas in Israel begangenen Massaker und die darauf folgenden und noch andauernden Massaker, die Israel mit seinem Großangriff im Gazastreifen begeht, völlig auf den Kopf gestellt. Es kann schwierig sein, einen historischen Moment zu erkennen, wenn man ihn gerade durchlebt, aber diesmal ist es nicht zu übersehen: Das Machtverhältnis zwischen Israelis und Palästinenser*innen hat sich verändert und wird den Lauf der Ereignisse von nun an noch weiter verändern.

Ein Monat Krieg ist ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen, was den Israelis, den Palästinenser*innen und der Linken in diesem Land unseres Wissens nach zugestoßen ist – und einige vorsichtige Einschätzungen darüber abzugeben, was noch geschehen wird.

Die Massaker der Hamas in Israel

Nach dem 7. Oktober wird unser Leben hier als Israelis nie wieder so sein wie es war. So viel wurde über die Gräueltaten gesagt, die die Hamas an diesem entsetzlichen Samstag im Süden Israels begangen hat und so viele Verschwörungstheorien und Fake News sind im Umlauf, dass es sich lohnt, uns einige grundlegende Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Diese Fakten wurden von verschiedenen unabhängigen Quellen und Journalist*innen bestätigt, darunter viele Teammitglieder des +972 Magazine und Local Call.

In einer beispiellosen und akribischen Operation sind Hamas-Kämpfer aus dem abgeriegelten Gazastreifen ausgebrochen, indem sie eine der vermeintlich mächtigsten und erfahrensten Armeen der Region ausgetrickst haben. Nachdem sie einen Teil des Zaunes zerstört haben, der Gaza umgibt, sowie einen Angriff auf den Grenzübergang Erez gestartet haben, übernahmen tausende militanter Kämpfer israelische Militärstützpunkte, töteten hunderte Soldat*innen oder nahmen diese gefangen und fuhren dann fort, ein Musikfestival anzugreifen und etliche Kibbuze und Städte zu besetzen. Sie töteten etwa 1 300 Menschen, die Mehrheit davon Zivilist*innen.

Das Gemetzel war grausam. Hunderte unbewaffneter Festivalbesucher*innen wurden getötet, darunter auch einige palästinensische Bürger*innen, die dort als Rettungshelfer*innen, Fahrer*innen und Arbeiter*innen tätig waren. Ganze Familien wurden in ihren Häusern abgeschlachtet; einige Überlebende mussten mit ansehen, wie ihre Eltern oder Kinder ermordet wurden. In einigen Gemeinden wurde einer von vier Bewohner*innen entweder getötet oder entführt. Auch landwirtschaftliche Arbeitskräfte aus Thailand und Nepal, sowie Pflegekräfte von den Philippinen waren das Ziel von Hamas-Kämpfern, die in zumindest einem Fall Granaten in einen Verschlag warfen, in dem diese Zuflucht gesucht hatten.

Etwa 240 Soldat*innen und Zivilist*innen aller Altersgruppen, von 9 Monaten bis über 80 Jahren, wurden nach Gaza entführt, die meisten von ihnen befinden sich immer noch in Geiselhaft, ohne Verbindung zur Außenwelt und ohne dass ihre Familien Kenntnis davon haben, wie es ihnen geht. Die ganze Zeit über hat die Hamas auch weiterhin tausende von Raketen von Gaza aus wahllos auf israelische Städte und Großstädte abgeschossen.

Diese Kriegsverbrechen sind, auch wenn sie in einem bestimmten Kontext betrachtet werden müssen, durch nichts zu rechtfertigen. Sie haben so viele von uns, mich eingeschlossen, bis ins Mark erschüttert. Die falsche Vorstellung, dass Israelis in Sicherheit leben können, während Palästinenser*innen unter einem brutalen System der Besatzung, der Blockade und der Apartheid routinemäßig getötet werden – eine Vorstellung, die Premierminister Benjamin Netanjahu in den vielen Jahren an der Macht verfochten und uns eingetrichtert hat – bricht allmählich in sich zusammen.

Dieses Gefühl wurde noch verstärkt durch regionale Kämpfe und Angriffe der Hisbollah gegen israelische Soldat*innen und Zivilist*innen im Norden Israels, auf die Israel mit seiner eigenen Artillerie und Drohnenangriffen im Libanon reagierte, bei denen sowohl Kämpfer als auch Zivilist*innen getötet wurden. Diese zusätzliche Front haben unsere existenzielle Angst und das Gefühl bestärkt, dass wir – Israelis und Palästinenser*innen – nur Schachfiguren in größeren regionalen und globalen Auseinandersetzungen sind (und das nicht zum ersten Mal).

Der Zusammenbruch unseres Sicherheitsgefühls ging Hand in Hand mit der Erkenntnis, dass der gesamte Staat Israel tatsächlich nichts anderes ist als ein Hologramm. Armee, Rettungsdienste, Sozialdienste und viele andere haben sich als nicht funktionsfähig erwiesen, weshalb israelische Überlebende, aus ihren Dörfern in den Grenzregionen Evakuierte und die Familien der Geiseln niemanden haben, an denen sie sich wenden können. Aus diesem Grund war die Zivilbevölkerung gezwungen einzuspringen und die Lücke zu füllen, die eigentlich die Regierung hätte füllen sollen. Jahre politischer Korruption haben uns bloß die leere Hülle eines Staates hinterlassen und keine Führung, die diese Bezeichnung verdient. Wir Israelis, ganz egal wie wir diesen Krieg überstehen werden, wollen sichergehen, dass so etwas wie der 7. Oktober nie wieder passieren kann.

Israels Massaker in Gaza

Obwohl sie an allen Fronten versagt hatte und noch bevor sie die Kontrolle über alle am 7. Oktober von der Hamas besetzten Gebiete im Süden wiedergewonnen hatte, fuhr die israelische Armee sofort mit dem fort, was sie am besten kann: auf Gaza einprügeln. Die gerechtfertigte Trauer, der Schmerz, der Schock und die Angst mündeten in einem weiteren in dieser Form nicht zu rechtfertigenden Militärschlag und einer Kampagne kollektiver Bestrafung der wehrlosen 2.3 Millionen Einwohner*innen des weltweit größten Freiluftgefängnisses – dem schlimmsten, das wir je gesehen haben.

Zusammen mit den ersten Luftschlägen schnitt Israel die gesamte palästinensische Bevölkerung Gazas von Strom, Wasser und Treibstoff ab und verwandelte damit eine bereits bestehende humanitäre Krise in eine ausgewachsene Katastrophe. Dann folgte die Anordnung der Armee an die Hälfte der Bevölkerung – etwa eine Million Menschen – im Norden des Streifens, diesen zu evakuieren und in den Süden zu gehen, dazu kam eine weitere Evakuierung des Ostens, dessen Bevölkerung in den Westen gehen sollte.

Die unermüdlichen Luftbombardements, sowohl im Norden als auch im vermeintlich »sicheren« Süden, haben bis jetzt mehr als zehntausend Palästinenser*innen in nur einem Monat das Leben gekostet – bei weitem die höchste Zahl an Toten, die in diesem Konflikt jemals zu beklagen war. Die meisten von ihnen sind Zivilist*innen, darunter mehr als viertausend Kinder. Hunderte Familien wurden ausgelöscht, darunter auch die zweier Mitarbeiter vom +972 Magazine – einer von ihnen wurde selbst getötet, ein weiterer überlebte zwar, verlor jedoch fünf Familienmitglieder. Einer unserer Kollegen von »We Beyond the Fence«, ein Projekt, das sich der Verbreitung palästinensischer Geschichten aus Gaza in Israel und der Welt widmet, hat zwanzig Familienmitglieder verloren.

Das umfasst jedoch nicht die Hunderten oder vielleicht auch Tausenden, tot oder lebendig, die unter den Trümmern begraben liegen und zu denen niemand auch nur ansatzweise durchdringen kann. Palästinensische Anwohner*innen beschreiben den Gestank des Todes, der sich über die Überreste einiger zerstörter Viertel gelegt hat. Während wir Israelis Raketen-Warnsirenen, ein Iron Dome-Abwehrsystem und Schutzräume besitzen, haben die Menschen in Gaza nichts davon und keine Möglichkeit sich gegen den Bombenhagel in allen Teilen der abgeriegelten Enklave zu schützen.

UN-Berichten zufolge wurden bislang mehr als 45 Prozent der Häuser im Gaza-Streifen durch israelische Angriffe zerstört oder schwer beschädigt. Die Vorräte in den Krankenhäusern gehen zur Neige und Ärzt*innen müssen lebensgefährliche medizinische Eingriffe ohne Narkose vornehmen und sich dabei mit dem Licht von Handy-Taschenlampen behelfen. Hunderttausende haben keinen sicheren Zugang zu sauberem Wasser. Seit dem Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober sperrt Israel gelegentlich die Telefon- und Internet-Verbindungen und verhindert damit, dass Verletzte nach Hilfe rufen, Menschen mit ihren Angehörigen Kontakt halten, Sanitäter*innen Verwundete lokalisieren oder Journalist*innen über die Geschehnisse vor Ort berichten können.

Westliche Regierungen haben Israel bislang freie Hand gelassen, um diese Gräueltaten zu begehen und beweisen damit eine konsequente Doppelmoral hinsichtlich des Wertes israelischen und palästinensischen Lebens – mit ein Grund dafür, weshalb wir überhaupt erst in diese Lage geraten sind. Wir sehen bei diesen internationalen Akteuren keinerlei Gewissensbisse dafür, wie sie dazu beigetragen haben, Palästinenser*innen und deren Verbündete über die Jahre zum Schweigen gebracht und übergangen zu haben und ihnen alle diplomatischen und gewaltlosen Wege für ihre Befreiung verwehrt zu haben – angefangen bei Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) bis hin zu einer Anrufung des UN-Sicherheitsrates um Intervention.

Obwohl die ganze Welt die Zerstörung und das Sterben sehen kann, sieht die israelische Öffentlichkeit nur sehr wenig davon und denkt wenig darüber nach. Die israelischen Massenmedien konzentrieren sich ausschließlich auf die Massaker vom 7. Oktober und rein gar nicht auf jene, die aktuell in unserem Namen begangen werden. Stattdessen hören wir einen endlosen Wettstreit genozidaler Rhetorik, bei der israelische Kommentator*innen und Politiker*innen darüber diskutieren, Gaza »dem Erdboden gleichzumachen«, Gaza auszulöschen, Gaza ethnisch zu säubern, »menschliche Tiere« zu bekämpfen und so weiter und so fort.

Die offiziellere Linie lautet, dass Israel »lediglich« versucht, die Hamas zu stürzen. Doch wir wissen aus Erfahrung, dass es keine militärische Lösung für die Bedrohung gibt, die Israelis in der Hamas sehen  und dass Jahrzehnte israelischer Versuche, eine »geeignete« palästinensische Führung auszuwählen, stets gescheitert sind. Die einzige Möglichkeit, Palästinenser*innen davon abzuhalten, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben, liegt darin, diese Unterdrückung und die Verweigerung ihrer Rechte zu stoppen. Das heißt Gerechtigkeit, Sicherheit und eine anständige Zukunft für alle oder für niemanden von uns.

Vertreibungen im Westjordanland, Verfolgung in Israel

Der gegen die Palästinenser*innen geführte Krieg beschränkt sich nicht nur auf Gaza. Im besetzten Westjordanland haben Siedler, Soldaten und in zunehmendem Maße auch Milizen, mit Mitgliedern beider Gruppierungen – bei denen Siedler und Soldaten nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind – ihre Kampagne zur ethnischen Säuberung des C-Gebiets, also jenen 60 Prozent des besetzten Territoriums, in dem sich israelische Siedlungen befinden und die Armee die völlige Kontrolle hat, erheblich verstärkt. Zumindest fünfzehn palästinensische Gemeinden wurden im Laufe des vergangenen Monats komplett vertrieben und etliche weitere sind noch größeren Bedrohungen unterworfen, gegen die niemand sie verteidigen kann. Siedler und Regierungsbehörden arbeiten daran, das direkt von Siedlern kontrollierte Territorium zu erweitern, was bedeuten würde, noch mehr Palästinenser*innen, die in diesen Gebieten leben, zu verdrängen.

Der UNO zufolge wurden im Westjordanland seit dem 7. Oktober mindestens 155 Palästinenser*innen durch Soldat*innen oder Siedler getötet. Bauern werden davon abgehalten ihre Oliven, wenn sie reif sind, auch zu ernten; in einigen Fällen müssen sie sogar dabei zusehen, wie Siedler ihnen die Oliven vor der Nase wegstehlen. Die israelische Armee hat mehr als tausend Palästinenser*innen aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zur Hamas verhaftet und tausende palästinensische Arbeiter*innen aus Gaza, die eine Genehmigung hatten, um in Israel oder dem Westjordanland zu arbeiten, wurden unter strengen Bedingungen in Internierungslager gesteckt, ehe sie Ende vergangener Woche zurück nach Gaza deportiert wurden.

In Israel selbst und im besetzten Ost-Jerusalem werden Palästinenser*innen sowohl von den Behörden als auch von der breiten jüdischen Öffentlichkeit verfolgt. Hunderte palästinensische Bürger*innen und einige linke Jüdinnen und Juden wurden festgenommen oder für lange Zeit festgehalten, von ihren Arbeitsstellen suspendiert oder entlassen, von den Universitäten, an denen sie als Studierende oder Lehrende tätig waren, ausgeschlossen und mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft bedroht. Viele dieser Aktionen wurden nur aufgrund von Posts in sozialen Medien veranlasst, selbst solchen, die völlig harmlos waren, wie etwa dreisprachige Aufrufe, den Krieg zu stoppen, Verse aus dem Koran oder Beileids- und Trauerbekundungen wegen des Todes von Kindern in Gaza.

In Jerusalem hält die Polizei willkürlich Palästinenser*innen auf der Straße an, um deren Feeds in sozialen Medien auf »Aufhetzung« zu überprüfen. Die Polizei kündigte zudem an, dass sie sämtliche Proteste verbieten würde, die einen Waffenstillstand fordern – eine Regel, die bislang fast ausschließlich auf palästinensische Bürger*innen angewandt wurde und die vom Obersten Gericht als Reaktion auf einen Antrag aufrechterhalten wird. »Jeder, der sich gerne mit Gaza solidarisch erklären möchte, hat das Recht dazu. Ich werde ihn in die Busse verfrachten, die gerade dorthin fahren«, erklärte der israelische Polizeichef Kobi Shabtai.

In etlichen israelischen Städten wurden Arbeitsstätten, in denen palästinensische Bürger*innen angestellt sind, komplett geschlossen, oder sie teilten diesen Mitarbeiter*innen mit, dass sie nicht mehr zur Arbeit kommen dürften, oder platzieren spezielle Wachen um die Arbeitsstätten, um die jüdischen Gemeinschaften in der Umgebung zu »schützen«. Ein gewalttätiger rechter Mob attackierte arabische Studierende an zwei Universitäten und Arbeiter*innen in verschiedenen Unternehmen, aber auch das Zuhause des ultra-orthodoxen linken jüdischen Journalisten Israel Frey. Nur vier der hunderten von Angreifer*innen in diesen unterschiedlichen Zwischenfällen wurden inhaftiert. In der Zwischenzeit ließ der kahanistische Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, in dutzenden Städten und Siedlungen tausende Sturmgewehre an neu gebildete Milizen zum Schutz der zivilen Sicherheit verteilen, viele von ihnen bestehend aus bekannten Rechtsextremisten.

Alles in allem hat dies unter den palästinensischen Bürger*innen Israels ein bislang unbekanntes Gefühl der Angst hervorgerufen. Viele von ihnen bezeichnen diese Periode als »das neue Militärregime« und beziehen sich damit auf das rigide System, das von 1948 bis 1966 herrschte. Viele haben ihre Profile in den sozialen Medien deaktiviert oder benutzen diese nicht mehr und viele vermeiden es einfach, zur Arbeit oder durch mehrheitlich von Jüdinnen und Juden bewohnte Gebiete zu gehen. Dazu kommt, dass einige palästinensische Bürger*innen ebenfalls bei den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober ums Leben gekommen sind oder im darauffolgenden Raketenbeschuss aus Gaza getötet wurden und dass einige immer noch von der Hamas in Gaza als Geiseln gehalten werden.

Es gibt einige wirklich inspirierende Initiativen jüdischer und palästinensischer Bürger*innen, die zusammenarbeiten, einander beschützen, gemeinsame Petitionen unterzeichnen, oder sich freiwillig gemeinsam für Opfer einsetzen – doch leider sind dies nur kleine Lichtblicke in einem düsteren Sturm.

Eine zerschlagene Linke

Als wäre all das, was rund um uns geschieht, nicht schon schlimm genug, sind wir auch Zeug*innen eines schmerzhaften Augenblicks für die Linke in Israel-Palästina, der viele rund um uns noch verzweifelter und hoffnungsloser macht. Wie Noam Shuster kürzlich im +972 Magazine schrieb, beobachten wir, wie die beiden nationalen Gemeinschaften um uns herum sich in ihre eigenen Schneckenhäuser zurückziehen, mit immer weiter auseinanderklaffenden Narrativen der Ereignisse des vergangenen Monats und schwindendem Vertrauen in einander. Das lässt all jene von uns, die sich für einen gemeinsamen Raum, einen gemeinsamen Widerstand und eine gemeinsame Zukunft auf der Basis von Gleichberechtigung einsetzen, einsam zurück. Es ist in vielerlei Hinsicht ein verdichteter Mikrokosmos der Risse, die im Laufe der vergangenen Monate auch bei der weltweiten Linken aufgetreten sind.

Viele jüdische Israelis, die sich auf Seiten der lokalen und globalen Linken sahen und die entschiedene Gegner*innen der Besatzung und Verfechter*innen von Menschenrechten und Gleichberechtigung waren, sind völlig schockiert von der Grausamkeit der Angriffe der Hamas. Die Attacken auf so viele Zivilist*innen, von denen viele selbst engagierte Aktivist*innen waren, die sich gegen die Blockade von Gaza und die israelische Apartheid im Allgemeinen gewandt haben, war nicht leicht zu verdauen.

Der erste, verständliche Schock – den auch ich teile – wurde bei vielen linken Israelis durch ein Gefühl der Enttäuschung darüber verstärkt, was sie angesichts dieses Horrors als mangelnde Solidarität von palästinensischen Persönlichkeiten, Freund*innen und Kolleg*innen erlebten. Wahrhaft besorgniserregende Tendenzen der Leugnung oder Rechtfertigung der Massaker in gewissen palästinensischen Kreisen und in der globalen Linken brachten einige dazu, von ihren Freund*innen zu verlangen, die Hamas öffentlich zu verurteilen und, als Beweis für die gegenseitige Solidarität und Verbundenheit, ein Bekenntnis zum Recht von Jüdinnen und Juden in diesem Land zu leben, abzulegen.

Gleichzeitig haben einige dieser Israelis den Angriff auf Gaza gerechtfertigt. Viele sind der Ansicht, dass es langfristig keine militärische Lösung gibt und betonen, dass sie zwar palästinensischen Zivilist*innen keinen Schaden zufügen wollen, jedoch darauf bestehen, »dass es keine andere Wahl gibt, als dieses Regime niederzuschlagen«. Obwohl manche vielleicht immer noch die Angriffe von Siedlern im Westjordanland ablehnen, scheint sie die Verfolgung palästinensischer Bürger*innen nicht zu kümmern, die mit denselben Argumenten gegenüber ehemaligen Freunden und Verbündeten gerechtfertigt wird.

Auf palästinensischer Seite entscheiden sich viele für komplettes Schweigen, größtenteils aus Angst, dass jede ihrer Bemerkungen gegen sie verwendet werden könnte und höchstwahrscheinlich auch würde. Jede Demonstration der Trauer über die Massaker des 7. Oktobers wird von Israelis dazu manipuliert, die Schrecken zu rechtfertigen, die sie über Gaza bringen und jedes Zeichen der Sorge um Einwohner*innen Gazas wird von der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, darunter auch Arbeitgeber*innen und die Polizei, als Hochverrat und Kollaboration mit dem Feind betrachtet.

Von den Palästinenser*innen, die es wagen, sich öffentlich zu äußern, bewegen sich einige auf einem schmalen Grat wenn sie das Recht eines unter Besatzung lebenden Volkes auf bewaffneten Widerstand anerkennen – wenn auch nur gegen staatliche oder militärische Ziele gerichtet – und die »erste Phase« der Angriffe vom 7. Oktober rechtfertigen, die darauf folgenden Massaker an Zivilist*innen jedoch ablehnen. Andere suchen eher nach Möglichkeiten zu leugnen, dass die Massaker überhaupt stattgefunden haben, indem sie etwa Verschwörungstheorien anhängen, denen zufolge eigentlich die israelische Armee Zivilist*innen getötet habe, während des Versuchs diese zu retten oder ihre Entführung zu verhindern (was in einigen Fällen passiert sein könnte, aber in weitaus geringerer Anzahl als behauptet) – oder sie rechtfertigen diese, indem sie die Entkolonialisierung als »chaotisch« und »unschön« bezeichnen, da sie die ursprünglich brutale Unterdrückung umkehrt, die sie bekämpft.

Palästinensische Bürger*innen Israels sind ihrerseits zutiefst enttäuscht von einigen jüdischen Persönlichkeiten, Kolleg*innen und Freund*innen in der Linken. Vom Unvermögen, den Menschen in Gaza beizustehen, die mit den von unserer Regierung begangenen Kriegsverbrechen konfrontiert sind, bis zum Unvermögen, sich für jene einzusetzen, die durch ein zunehmend autoritäres Regime verfolgt werden, fühlen sich palästinensische Bürger*innen von vielen jüdischen Verbündeten verlassen und verraten, die bis vor einem Monat im Namen der »Demokratie« noch voller Überzeugung auf den Straßen demonstrierten.

Diese Tendenzen kommen nun in zwei Gemeinschaften auf, die in sehr realer Trauer, Angst und Sorge gefangen sind und die beide auf kollektive Traumata verweisen können – den Holocaust und die Nakba – und deren Erinnerungen durch die genozidale Rhetorik von Machthabern der Hamas und der israelischen Regierung erneut aufleben – und im Falle Palästinas auch durch tatsächliche Vertreibung und die Erörterung von Plänen für noch mehr Vertreibungen. Es versteht sich von selbst, dass jede Seite dadurch, dass sie sich in der Geborgenheit und im Schutz ihrer nationalen oder ethnischen Gruppe sicher wähnt, auch unbewusst die Ängste und Enttäuschungen der anderen Seite bekräftigt und damit eine zerstörerische Dynamik von eskalierendem Misstrauen und Verzweiflung einhergeht.

Neue Horizonte

Wir wissen noch nicht, wie dieser Krieg ausgehen wird. Die israelischen Machthabenden versprechen uns eine »sehr lange« Kampagne, die »Monate« oder »Jahre« dauern könnte. Da sich jedoch angesichts des Blutvergießens und der humanitären Katastrophe in Gaza die weltweite öffentliche Meinung geändert hat, denke ich, dass wir in einigen Wochen einen Waffenstillstand erleben werden. Dazu werden wohl auch die inner-israelischen Forderungen nach Freilassung der mehr als zweihundert von der Hamas festgehaltenen Geiseln, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung von Netanjahu und die begrenzte Toleranz für die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten des Krieges beitragen.

Es ist unmöglich, das Ausmaß des neuen Zeitalters zu ermessen, das nach diesem Krieg anbrechen wird. Es lässt sich nicht sagen, wer Gaza regieren wird – die Hamas, die palästinensische Autonomiebehörde, internationale Truppen oder Israel selbst. Die Größenordnung der in Gaza nötigen Wiederaufbaumaßnahmen ist unvorstellbar. Es besteht wohl auch die Notwendigkeit, die zerstörten oder evakuierten israelischen Gemeinden im Süden und Norden wiederaufzubauen.

Wichtige Gegenstände zukünftiger Analysen werden die palästinensische Führung und deren Bemühungen, die umfassenderen regionalen Dynamiken und die Rolle ausländischer Mächte sein, die in den kommenden Wochen und Monaten im +972 Magazine veröffentlicht werden. Bis auf weiteres möchte ich den Schwerpunkt hier auf die jüdisch-israelische Politik legen.

Zwei Veränderungen scheinen mir an dieser Stelle sehr klar: das Ende der Ära Netanjahu und das Ende der Dominanz des »Konfliktmanagement«-Diskurses in der israelischen Gesellschaft, an dessen Stelle neue öffentliche Diskussionen über die zukünftigen jüdisch-arabischen Beziehungen treten werden.

Netanjahu ist am Ende. Ich weiß, das wurde schon oft behauptet und er hat eine unglaubliche Überlebensfähigkeit bewiesen, aber mit dem, was im vergangenen Monat geschehen ist, haben wir diesen Punkt nun überschritten. Sämtliche Umfragen seit dem 7. Oktober zeigen, dass die große Mehrheit der Israelis, darunter eine erhebliche Mehrheit innerhalb der Likud- Partei, der Ansicht ist, dass Netanjahu die Schuld trägt für Israels militärische Niederlage gegen die Hamas und, dass er gehen muss. Einige seiner Verbündeten in Medien und Regierung kehren ihm bereits den Rücken und bereiten sich auf die Zeit danach vor.

Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum Netanjahu gerade jetzt so gefährlich ist, glaubt er doch – wie es aussieht auch zurecht – dass sich niemand mit einer Regierungsumbildung auseinandersetzen wird, solange der Krieg andauert. Es könnte jedoch gut sein, dass er sich täuscht und dass selbst die Israelis einmal genug haben, sodass er entweder vor oder nach Ende des Kriegs auf die eine oder andere Weise abgelöst werden wird.

Viel wichtiger noch als Netanjahu selbst ist jedoch die Netanjahu-Doktrin, die zum beinahe-Konsens der jüdisch-israelischen Politik geworden ist. Dieser Doktrin zufolge hat Israel die Palästinenser*innen bereits besiegt, sie sind nicht länger ein Problem, mit dem man fertig werden muss. Man könne den Konflikt nun auf »kleiner Flamme managen«, sodass wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden können.

Durch Netanjahus beinahe ununterbrochene Regierungstätigkeit seit 2009 hat diese Wahrnehmung Herz und Verstand der Israelis erobert und die Frage »was tun mit den Palästinenser*innen« – die stets die wichtigste Spannungslinie in der israelischen Politik war – ist fast völlig von der Agenda verschwunden, was zu jener Selbstüberschätzung beitrug, die die Armee dazu veranlasste, ihre Wachsamkeit in der Umgebung von Gaza aufzugeben. Im vergangenen Monat hat die Hamas diese Auffassung für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, zerstört.

Bei den nächsten israelischen Wahlen, wann immer diese auch stattfinden, werden wir höchstwahrscheinlich erleben, wie die politischen Landkarte neu organisiert wird und möglicherweise drei verschiedene Blöcke entstehen werden. Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie einflussreich jedes dieser Lager sein wird, aber so in etwa könnten sie aussehen.

Das erste ist natürlich die extreme Rechte, die bereits seit 2021 an Zugkraft gewonnen hat und versuchen wird, von den aktuellen Ereignissen zu profitieren. Angeführt von Leuten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, vermutlich mit Zuwachs von einigen Likud-Mitgliedern, wird dieses Lager die Meinung vertreten, dass egal wie dieser Krieg geendet hat, es einfach noch nicht genug ist. Israel, so werden sie argumentieren, braucht eine endgültige Lösung, basierend auf umfassenden ethnischen Säuberungen, da in ihren Augen das gesamte Land uns gehört und kein Platz dafür ist, dass das palästinensische Volk als Kollektiv hierbleiben kann.

Eine zweite Strömung, vermutlich angeführt von Benny Gantz und Yair Lapid, wird den Fokus vermutlich auf unilaterale Schritte legen, wie etwa einem »zweiten Rückzug«, dieses Mal aus dem Westjordanland. Wobei Siedlungen östlich der Trennmauer niedergerissen, der Rest annektiert und die Mauern um die Palästinenser*innen sowohl im Westjordanland als auch in Gaza mit noch mehr Beton, noch mehr Technik und noch mehr Soldat*innen als je zuvor verstärkt werden würden. Ein Teil dieses Ansatzes könnte auch die Strategie des »Rasenmähens« umfassen – im Grunde genommen periodisch stattfindende Militäroperationen – um Palästinenser*innen davon abzuhalten, bedeutende Streitkräfte aufzubauen.

Beim dritten Lager handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Neuausrichtung dessen, was vorher Awoda, Meretz und Teile von Jesch Atid waren. Bei diesem Lager könnte eine Schlüsselrolle dem neuentdeckten Helden der zionistischen linken Mitte zufallen, dem ehemaligen Meretz-Abgeordneten und Vize-Generalstabchef Jari Golan, der den 7. Oktober als freiwillige Ein-Mann-Einheit verbracht hat und mit seiner Waffe und seinem privaten Auto immer wieder in das Kampfgebiet gefahren ist, um unter Beschuss Überlebende zu retten. Dieses Lager wird vermutlich eine Rückkehr zum Paradigma der Zwei-Staaten-Lösung vorschlagen, die durch Verhandlungen mit der PLO erzielt werden soll. Es könnte auch versuchen, irgendeinen Diskurs der Koexistenz innerhalb Israels vorzubringen und unterschiedliche Formen arabisch-jüdischer Partnerschaft im zivilen Leben zu fördern.

Die beiden letztgenannten Lager werden von starken Anti-Siedler-Gefühlen profitieren, die in der israelischen Öffentlichkeit immer stärker geworden sind, besonders seitdem regierungskritische Demonstrant*innen zu Recht die Verbindung zwischen der Justizreform der extremen Rechten und deren ideologischen Wurzeln in der religiösen zionistischen Bewegung in den besetzten Gebieten erkennen. Die Ablehnung von Siedler-Pogromen, wie jenem in Huwara vergangenen Februar, ist nur gestiegen, weil viele Israelis befürchten, dass die aktuellen Angriffe der Siedler im Westjordanland eine dritte Front im Krieg eröffnen könnten.

Das Wissen, dass die israelische Armee in den vergangenen Monaten Streitkräfte vom Gaza-Zaun abgezogen hatte, um extremistische Siedler an weit entfernten Außenposten im Westjordanland zu schützen, was dem militärischen Erfolg der Hamas am 7. Oktober den Weg geebnet haben könnte, hat zudem den Hass und die Feindseligkeit diesen Siedlern gegenüber verstärkt. Abgesehen davon ist der Hass Israels gegenüber den Palästinenser*innen jedoch noch sprunghafter angestiegen und die entfernte Möglichkeit, dass eine Ein-Staaten-Lösung oder eine Konföderation von den Israelis akzeptiert werden könnte, ist noch weiter gesunken.

Auf ins Unbekannte

Es sind düstere und herausfordernde Zeiten für all jene von uns, die sich der Apartheid widersetzen und eine auf Gerechtigkeit und Gleichheit für alle beruhende Lösung anstreben. Auf der einen Seite wurden Errungenschaften, die über Jahrzehnte gemeinsamen Kampfes mühsam erreicht wurden, durch die Massaker der Hamas einfach so ausgelöscht und es wird schwierig sein, diese wieder zurück zu gewinnen. Unsere Bewegung befindet sich im Aufruhr und die Verzweiflung überwiegt. Tausende Leben sind verloren, Tausende weitere könnten folgen und die kollektiven Traumata werden jeden Tag mehr.

Auf der anderen Seite wird es innerhalb der israelischen Gesellschaft, ist der Krieg einmal vorbei, eine Abrechnung geben müssen, die uns neue Möglichkeiten eröffnen könnte. Viel von dem, wofür wir gekämpft haben, wird von immer größerer Relevanz sein. Lokal und global werden immer mehr Menschen willens sein, anzuerkennen, dass das System, in dem wir leben, ungerecht und nicht aufrechtzuerhalten ist und uns zudem keine echte Sicherheit bietet. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, um einen friedlichen politischen Prozess zu fördern, mit dem erklärten Ziel, die Blockade und die Besatzung zu beenden, das Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge anzuerkennen und kreative Lösungen zu finden, um dieses Recht umzusetzen.

Doch die neue Realität wird einige Neuausrichtungen erfordern. Neben unserem Engagement für die Verwirklichung der vollen Rechte aller Palästinenser*innen, muss unsere fortschrittliche, Anti-Apartheid-Bewegung ausdrücklich auf die kollektiven Rechte der Jüdinnen und Juden in diesem Land hinweisen und sicherstellen, dass ihre Sicherheit gewährleistet ist, egal wie eine Lösung letztlich aussehen wird. Wir werden mit der Hamas und ihrer Rolle in dieser neuen Realität fertig werden und sicherstellen, dass sie solche Angriffe auf Israelis nie wieder ausführen kann. Ebenso werden wir auf die Sicherheit von Palästinenser*innen und ihren Schutz vor Aggressionen durch das israelische Militär und durch Siedler bestehen. Ohne diese Voraussetzungen wird es unmöglich sein, voranzukommen.

Bis dahin müssen wir unsere Bemühungen auf zwei äußerst wichtige Forderungen konzentrieren: die zivilen Geiseln zu befreien und einen unmittelbaren Waffenstillstand zu erreichen. Und zwar jetzt.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Titze-Grabec.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de