US-Wahl 2020: Ein Sieg der liberalen Demokratie - und das Erbe eines Scherbenhaufens

Analyse

Der Wahlsieg von Joe Biden und Kamala Harris ist ein bedeutender Sieg für die liberale Demokratie in den USA und für eine Politik des Mitgefühls und Miteinanders. Gleichzeitig steht die neue Regierung vor einem Scherbenhaufen und vor gewaltigen politischen Herausforderungen.

Joe Biden und Kamala Harris haben es geschafft. Nach einem Marathon-Wahlkampf haben sie sich mit landesweit über vier Millionen Stimmen Vorsprung und einer Mehrheit in den entscheidenden Bundesstaaten gegen Donald Trump und Mike Pence durchsetzen können. Die Trump-Zeit geht nun zu Ende wie sie angefangen hat, mit Normenbrüchen, Verschwörungstheorien und dem Versuch, Vertrauen in die demokratischen Institutionen und das gesellschaftliche Miteinander zu zerstören. Doch Trump wirkt hilflos, die Zügel der Macht sind ihm schon weit entglitten.

Diese Wahl ist ein großer Sieg für die liberale Demokratie. Sie ist ein Richtungswechsel für das Land und ein möglicher Wendepunkt für die internationalen Beziehungen und die globale Ordnung. Die Bedeutung dessen kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie fand statt vor dem Hintergrund tiefgehender innenpolitischer und gesellschaftlicher Krisen: Eine außer Kontrolle geratene Pandemie mit weit über 200.000 Toten, eine einschneidende Wirtschafts- und soziale Krise, gesellschaftliche Auseinandersetzungen um strukturellen Rassismus und die eigene Geschichte, und ein politischer Kulturkrieg um die Identität und Verfasstheit des Landes und der amerikanischen Gesellschaft.

Es gibt nun die echte Chance für einen Neuanfang. Zugleich sind die Herausforderungen der kommenden Regierung immens.

1. Biden übernimmt einen Scherbenhaufen

Trump hinterlässt seinem Nachfolger einen Scherbenhaufen auf allen Ebenen. Die Pandemie hat das Land fest im Griff, die Wirtschaft schwächelt, das sind die dringendsten unmittelbaren Herausforderungen der neuen Regierung. Die Institutionen auf Bundesebene sind deutlich geschwächt worden, wie im Falle des Außenministeriums oder nur noch ein Schatten ihrer selbst wie die US-Umweltbehörde. Es wird Zeit brauchen, sie zu erneuern und zu funktionalen politischen Entscheidungsprozessen zurück zu kehren. Dazu kommt ein Schuldenberg von 20 Billionen Dollar, der den politischen Gestaltungsspielraum deutlich einschränkt. Zudem hat das Ansehen und die Anziehungskraft der USA in der Welt massiv gelitten und wird nicht einfach und schon gar nicht schnell wiederherzustellen sein. Und Biden muss mit einem vergifteten innenpolitischen Klima umgehen, in dem eine großer Teil der Bürgerinnen und Bürger ihn dank Trumps Angriffen auf die Integrität der Wahl zunächst als illegitim betrachten wird. Das sind alles andere als einfache Startbedingungen.

2. Institutionen beweisen ihre Stabilität zu einem kritischen Zeitpunkt

Die viel gescholtenen demokratischen Institutionen haben sich beeindruckend bewiesen in dieser Woche unter extrem schwierigen Umständen. Die Medien haben verantwortungsvoll berichtet und informiert, ohne Hast und Aufgeregtheit, und ohne über jedes Stöckchen zu springen, dass Trump ihnen hingehalten hat. Das war besonders wichtig, weil diese Wahl keine historischen Vorbilder hatte, sowohl was die Pandemie als auch die Angriffe Trumps im Vorfeld anging. Das hat zu Vertrauen und Gelassenheit in breiten Teilen der Bevölkerung geführt, trotz der langen zeitlichen Verzögerung und der Unsicherheit, die damit einhergeht. Die für die Durchführung der Wahl Verantwortlichen in den Bundesstaaten und Kommunen haben es zudem geschafft, einen praktisch reibungslosen Ablauf der Wahl und der Auszählung zu garantieren. Das ist umso bemerkenswerter als pandemiebedingt neue Verfahren ohne großen Vorlauf angewandt wurden und besonders viele neue ehrenamtliche Helfer/innen rekrutiert und geschult werden mussten. Diese Woche hat damit auch erneut gezeigt, wie bedeutsam ein funktionierender Föderalismus für die Stabilität von Demokratien und das Vertrauen in demokratische Prozesse ist. Und nicht zuletzt haben die Gerichte ihre Unabhängigkeit bewiesen und zur Stabilität der Situation wesentlich beigetragen entgegen aller Befürchtungen im Vorfeld.

3. Hohe Wahlbeteiligung und politische Polarisierung

Noch nie haben so viele Menschen an einer Präsidentschaftswahl in den USA teilgenommen, und die prozentuale Wahlbeteiligung war höher als jemals seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Das ist einerseits ein gutes Zeichen für die Demokratie, weil es deutlich macht, wie viele Menschen glauben, dass die Politik einen echten Unterschied macht für ihr Leben und für das Land. Andererseits ist es auch die Folge der politischen Polarisierung. Es standen zwei extrem unterschiedliche Kandidaten und Vorstellungen von der Zukunft des Landes zur Wahl. Und die hohe Wahlbeteiligung war auch von der Angst beider Seiten getrieben, dass ein Wahlsieg der anderen Seite das Land ins Chaos stürzen und das Ende der amerikanischen Zivilisation bedeuten würde. In einem derartigen gesellschaftlichen Klima der Angst wurde auch die langjährige These der Demokraten widerlegt, dass eine hohe Wahlbeteiligung stets ihnen zu Gute käme. Das könnte im besten Fall dazu führen, dass die Republikaner ihre Politik der systematischen Unterdrückung von Wählerstimmen überdenken.

Bemerkenswert ist die Erweiterung der Swing States bei dieser Wahl. Neben den Klassikern Ohio, Iowa und Florida scheinen Michigan, Wisconsin und Pennsylvania auch künftig für extrem knappe Ergebnisse zu sorgen. Hinzu kommt jetzt ein Teil der Südstaaten mit Georgia und North Carolina, der Südwesten mit Nevada und Arizona, und sogar Texas. Das könnte den Willen zur überparteilichen Zusammenarbeit weiter erschweren, denn ein politisches Nullsummenspiel in all diesen Staaten, die direkt auf der Kippe stehen, birgt das Risiko einer noch härteren Abgrenzung voneinander.

Der Umgang mit der gesellschaftlichen und politischen Spaltung ist daher besonders auf Ansätze von unten angewiesen, auf die Schaffung von Vertrauen in Institutionen, die öffentliche Infrastruktur und überparteiliche Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene. Auf Bundesebene werden solche Ansätze künftig begleitet werden von einer Biden-Regierung, die alles tun wird, um die Spaltung des Landes rhetorisch nicht weiter anzuheizen. Das löst die Probleme noch nicht, aber es schafft Voraussetzungen, um sie adressieren zu können.

4. Stadt-Land-Gegensatz

Viel wurde geschrieben über die blauen Küsten und das rote Herzland der Vereinigten Staaten. Aber die zentrale politische Spaltungslinie liegt nicht zwischen einzelnen Bundesstaaten, sondern innerhalb dieser. Es ist die Trennung zwischen städtischen Zentren und ländlich geprägten Gegenden. Dazwischen liegen die Vororte als dritte Kategorie, die politisch stärker durchmischt sind und entsprechend stark umkämpft. Dieser siedlungsgeographische Gegensatz geht einher mit Gegensätzen kultureller und politischer Haltung und des Bildungsniveaus. Nicht entscheidend hingegen ist die wirtschaftliche Lage der Wähler/innen. Wie schon 2016 verdienen Trump-Wähler/innen im Durchschnitt mehr als Anhänger/innen Bidens. Angesichts des US-Wahlsystems, welches ländlich geprägte Bundesstaaten überproportional mit politischer Macht ausstattet, brauchen die Demokraten dringend eine tragfähigere ländliche politische Strategie. Die Adressierung der gesellschaftlichen Stadt-Land-Spaltung ist zugleich die wichtigste Frage für den Umgang mit der politischen Polarisierung auf Bundesebene, welche die Vereinigten Staaten derart gelähmt hat in den letzten Jahren.

5. Rechtspopulismus wird bleiben, Blockadepolitik der Republikaner erwartbar

Die großen Hoffnungen der Demokraten auf einen überwältigenden Wahlsieg von Biden, und damit auch auf eine klare, eindeutige Zurückweisung des Populismus Trumpscher Prägung haben sich nicht erfüllt. Trumps Politik hat sich als wettbewerbsfähig erwiesen für die Republikaner. Sie konnten deutlich zulegen bei Wählerinnen und Wählern insgesamt und sogar bei Latinos und Schwarzen. Damit hat sich auch die These mancher Demokraten erledigt, dass der demographische Wandel hin zu mehr gesellschaftlicher Diversität automatisch politische Mehrheiten mit sich bringen würde.

Das senkt die Chancen auf eine mittelfristige Reform und Mäßigung der republikanischen Partei deutlich. Die Mischung aus Anti-Eliten-Rhetorik, Nationalismus, gesellschaftspolitischem Revisionismus, der Delegitimisierung des Gegners und der systematischen Nutzung von Lügen und Verschwörungstheorien wird auch in Zukunft Teil der amerikanischen Politik bleiben.

Mit dieser Politik haben die Republikaner im Abgeordnetenhaus Sitze hinzugewonnen bei dieser Wahl und werden wahrscheinlich ihre Mehrheit im Senat verteidigen können. Genauso wichtig sind ihre Erfolge auf Ebene der Bundesstaaten, wo sie umfassende Mehrheiten in Landesparlamenten gewinnen oder verteidigen konnten. Das gibt ihnen die Chance, im kommenden Jahr Wahlkreise in ihrem Sinne zurecht zu schneiden und damit ihre politische Macht auf Jahre hinaus zu zementieren.

Die Folge wird voraussichtlich eine radikale Blockadepolitik der Biden-Harris-Regierung sein, nach dem Motto, alles lohnt sich was meinem Gegner mehr schadet als mir. Das verheißt nichts Gutes für die ambitionierten Reformpläne der neuen Regierung, trotz der breiten gesellschaftlichen Mehrheiten, die es für ihre Politik landesweit gibt, von der Klimapolitik über die Waffengesetzgebung bis zur Gesundheitspolitik.

Wichtig wird perspektivisch auch eine Post-Wahlanalyse sein, welche Rolle die Pandemie bei der Wahl gespielt hat. Ohne Frage hat das katastrophale Missmanagement der Trump-Regierung Biden Stimmen gebracht. Aber offen ist noch, in welchem Maße die Pandemie auch Ängste und Unsicherheiten breiter Bevölkerungsteile verstärkt hat, die sie erst recht in die Arme der Populisten und Verschwörungstheoretiker getrieben hat. Fest steht, dass für breite Teile der Republikaner alle Fakten und selbst die persönliche wirtschaftliche und gesundheitliche Lage mittlerweile nebensächlich geworden sind im Vergleich zu einer tribalen politischen Zugehörigkeit, einem Wir-Gegen-Die-Gefühl.

6. Was wir erwarten können und was von uns erwartet wird

Angesichts dieser Herausforderungen der neuen Regierung, sollten die Erwartungen Deutschlands und Europas an die neue US-Regierung realistisch sein. Biden und Harris werden auf die Unterstützung gleichgesinnter Partner mindestens so stark angewiesen sein wie Europa auf ihre. Und dennoch kann mit dieser Regierung ein neues Kapitel aufgeschlagen werden in den transatlantischen Beziehungen. Das ist auch dringend nötig. Denn gemeinsame Herausforderungen gibt es genug, von der Bewältigung der Klimakrise über die Verteidigung und Festigung unserer liberalen Demokratien nach innen und außen bis zur politischen Gestaltung der Digitalisierung und einer kooperativen regelbasierten globalen Ordnung. Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze wird es weiterhin geben. Aber mit der Biden-Regierung erwartet die Europäische Union ein Partner, welcher die Analyse der globalen Herausforderungen weitgehend teilt, welcher das transatlantische Wertebündnis wiederbeleben kann und welcher der Stärkung der demokratischen Allianzen weltweit verpflichtet ist. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die kommenden vier Jahre gilt es jetzt, mit vereinten Kräften zu nutzen. Denn was danach kommt, bleibt offen.